Lebensmittel und Kohlen waren knapp

„Vor 100 Jahren: Murrhardt am Beginn der Weimarer Republik“ (2) Große Versorgungs- und Logistikprobleme

Heute steht Versailles vor allem für das riesige barocke Prachtschloss des französischen „Sonnenkönigs“ Ludwig XIV. vor den Toren von Paris. Doch 1919 dachten die laut Volkszählung rund 4150 Einwohner der Walterichstadt nur an den dort unterzeichneten Friedensvertrag, der ihr gesamtes Leben enorm beeinträchtigte.

Das Gasthaus zum Schwanen – aufgenommen vermutlich Anfang des 20. Jahrhunderts. Foto: Archiv Carl-Schweizer-Museum

Das Gasthaus zum Schwanen – aufgenommen vermutlich Anfang des 20. Jahrhunderts. Foto: Archiv Carl-Schweizer-Museum

Von Elisabeth Klaper

MURRHARDT. Vergeblich protestierten sie gegen dessen harte, als schmachvoll empfundene Bedingungen. Sie sammelten Unterschriften gegen die erzwungene Anerkennung der Alleinschuld am Ersten Weltkrieg, die Gebietsabtretungen, den Verlust der Kolonien und die drastische Verkleinerung der Streitkräfte. Am schwerwiegendsten aber war der andauernde, teils erhebliche Mangel an den sogenannten Artikeln des täglichen Bedarfs, die zudem immer teurer wurden.

Trotz Aufhebung der Seeblockade am 12. Juli gab es fast alle Grundnahrungsmittel noch das gesamte Jahr 1919 über nur gegen Bezugsmarken, wobei es immer wieder vorkam, dass die Waren nicht für alle reichten. Denn die Wirtschaft und der Handel kamen erst langsam wieder in Gang. Zudem verkauften zahlreiche Bauern offenbar einen Teil ihrer Erzeugnisse für gutes Geld an Einheimische und Leute aus den großen Städten, die wie schon während des Ersten Weltkriegs raus aufs Land kamen, um Lebensmittel zu hamstern. Dabei waren die Bauern eigentlich verpflichtet, alles abzuliefern, um die Ernährung der Einwohner ihrer Heimatgemeinde sicherzustellen, wofür sie aber nur ein geringes Entgelt bekamen. Die Folge waren erhebliche Versorgungsengpässe, beispielsweise bei Butter.

Hinzu kamen große Transportprobleme wegen den mit dem Friedensvertrag verbundenen umfangreichen Ablieferungsverpflichtungen an die Siegermächte. So musste das Deutsche Reich eine Vielzahl von Gütern aller Art als Wiedergutmachungsleistung für die großen Kriegsschäden vor allem an Frankreich abgeben. Dazu gehörten Eisenbahnlokomotiven und -waggons, Kohlen und Maschinen, auch landwirtschaftliche, Industrieanlagen und -produkte, aber auch Lebensmittel und sogar lebendes Nutzvieh. Überdies fiel 1919 die Kartoffelernte vor allem in den östlichen Gebieten schlecht aus, auch wegen eines großen Mangels an Landarbeitern, sodass es insgesamt nur etwa halb so viele wie vor dem Krieg gab. „Die schwierige Verkehrslage droht sich zu einer Kartoffelkatastrophe auszuwachsen“, wurde berichtet, denn überall fehlte es an Transport- und Verkehrsmitteln, um die Ernte rechtzeitig vor Beginn der Frostperiode in die Städte zu bringen.

Die Transportprobleme, Bergarbeiterstreiks sowie der Verlust Oberschlesiens, das bisher Württemberg versorgt hatte, führten zu einem andauernden gravierenden Kohlenmangel. Die Folge waren drastische Einschränkungsmaßnahmen auch in Murrhardt: Betriebe, Behörden und Läden mussten ihre Arbeits- und Öffnungszeiten verkürzen, die Bahn den Zugverkehr reduzieren, zeitweise sogar ganz einstellen. Und das seit 1905/06 bestehende Murrhardter Gaswerk, das damals noch Gas aus Kohle erzeugte, konnte nicht ausreichend Gas liefern, sodass die Leitungen mehrfach gesperrt werden mussten. Darum konnten die Beleuchtung der Straßen und in den Häusern sowie die Feuer in Kochherden und Heizöfen wortwörtlich nur noch auf Sparflamme aufrechterhalten werden.

Info
Der Friedensvertrag von Versailles

Mit dem Versailler Vertrag wollten die Siegermächte USA, Großbritannien und vor allem Frankreich Deutschland wirtschaftlich und militärisch so schwächen, dass es nie wieder einen Angriffskrieg führen konnte. Doch bekanntlich erreichten sie damit das genaue Gegenteil, weil die Deutschen den Vertrag als unerträgliche Schande und Demütigung empfanden, insbesondere Artikel 231. Er schrieb die alleinige Kriegsschuld Deutschlands fest, darum musste das Deutsche Reich erhebliche Reparationen leisten. Neben umfangreichen materiellen Sachlieferungen zahlte es zwischen 1919 und 1932 an die ehemaligen Gegner des Ersten Weltkriegs 25 Milliarden Goldmark. Vor allem wegen dieses „Kriegsschuldartikels“ wurde der Versailler Vertrag von der äußersten Rechten bis hin zur Sozialdemokratie grundsätzlich als „Diktat“ abgelehnt.

Um nicht die Verantwortung für die Unterzeichnung des Vertrags tragen zu müssen, trat das Kabinett von Ministerpräsident Philipp Scheidemann im Juni 1919 geschlossen zurück. Doch angesichts der alliierten Interventionsdrohung gab es zur Vertragsunterzeichnung am 28. Juni 1919 keine Alternative. Die Möglichkeit militärischen Widerstands wurde von führenden deutschen Militärs als aussichtslos bezeichnet. Nachdem die Mehrheit der Nationalversammlung dem Vertrag am 22. Juni zustimmte, unterzeichneten ihn der neue Außenminister Hermann Müller und Verkehrsminister Johannes Bell am 28. Juni 1919 im Spiegelsaal von Versailles. Der Vertrag trat am 10. Januar 1920 in Kraft.

Er umfasste zahlreiche harte Auflagen. So musste das Deutsche Reich ein Siebtel seines Territoriums mit einem Zehntel seiner Bevölkerung abtreten: Elsass-Lothringen im Westen an Frankreich, Posen und Westpreußen im Osten an Polen. Das Hultschiner Ländchen im Südosten kam zur Tschechoslowakei, das Memelgebiet unter die Kontrolle der Alliierten, während das zur „Freien Stadt“ erklärte Danzig dem Völkerbund unterstellt und dem polnischen Zollsystem eingegliedert wurde.

In verschiedenen Grenzgebieten des Deutschen Reichs sollten Volksabstimmungen über die staatliche Zugehörigkeit entscheiden. Als Resultat der Abstimmung von 1920 fiel Eupen-Malmedy an Belgien, Nordschleswig wurde zwischen Deutschland und Dänemark geteilt. Im südlichen Ostpreußen und in Westpreußen östlich der Weichsel erbrachte die Abstimmung ein nahezu einstimmiges Ergebnis für den Verbleib im Deutschen Reich. Im Saargebiet sollte erst nach Ablauf von 15 Jahren eine Volksabstimmung stattfinden. Bis dahin wurde das Saargebiet dem Völkerbund unterstellt. Außerdem musste Deutschland seinen gesamten Kolonialbesitz abtreten.

Die Stärke des deutschen Heers schrieb der Versailler Vertrag auf 100000 Berufssoldaten fest, die Marine durfte 15000 Mann unterhalten. Schwere Waffen waren der Reichswehr ebenso verboten wie der Besitz von Luftstreitkräften. Auch die zivile Luftfahrt wurde starken Einschränkungen unterworfen. Um die zahlreichen Entwaffnungsbestimmungen zu überprüfen, richteten die Alliierten eine internationale Militärkontrollkommission ein. Die Friedensbedingungen sahen zudem eine auf 15 Jahre befristete Besetzung des linken Rheinufers und der Brückenköpfe durch alliierte Truppen sowie die Entmilitarisierung des Rheinlands vor. Der von beiden Staaten angestrebte Anschluss DeutschÖsterreichs an das Deutsche Reich wurde von den Alliierten verboten.

Quelle: Internetportal „Lebendiges Museum Online – Deutsches Historisches Museum“

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Erstellt:
17. August 2019, 06:00 Uhr

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