Tim Raue
„Naivität treibt mich an“
Zehntes Restaurant, TV-Auftritte, Arbeitszeiten von sechs bis 23 Uhr. Tim Raue über Oma Gerdas Eisbeinrezept, gesundheitliche Warnungen und ob er der fleißigste Koch ist.

© Nils Hasenau
Tim Raue im Sphere im Fernsehturm in Berlin.
Von Anja Wasserbäch
Es ist großer Eröffnungstag des neuen Restaurants Sphere, auf 207 Metern Höhe im Berliner Fernsehturm. Tim Raue kommt gerade von TV-Aufzeichnungen und stürzt sich direkt in das Gespräch. Dabei lässt er Garnelencocktail KaDeWe, Soljanka und Berliner Schnitzel servieren: seine Vision von Berlin auf dem Teller.
Herr Raue, Sie eröffnen jetzt Ihr zehntes Restaurant. Was treibt Sie an?
Naivität. Ich bin mir nicht bewusst, was ich alles mache. Es ist tatsächlich so, dass mir die Dinge zufliegen. Ich sage sehr oft nein, aber es gibt Dinge, die kann man nicht ablehnen. Der Fernsehturm bot mir die großartige Möglichkeit, wieder ein Casual Restaurant mit regionaler Küche zu eröffnen. Von hier aus hat man einen tollen Blick über Berlin und Neu-Brandenburg und bekommt die Region auf dem Teller serviert. Hier kann ich vielen Menschen den Geschmack Berlins näherbringen, so wie ich ihn definiere. Ich bin kein Blumenpflücker, kein großartiger Fermentierer und ich möchte auch nicht belehren. Ich möchte meine Historie zeigen, und das mit zeitgemäß interpretierten Gerichten. Dabei geht es mir mehr um den Geschmack als um das Dekorative. Dafür wird viel Zeit aufgewendet. Letztendlich gehst du aber in ein Restaurant, weil es schmecken muss.
Wie schmeckt denn Berlin?
Spannend, interessant, vibrierend, grenzenlos. Berlin ist ein Ort, an dem jeder so sein darf, wie er ist. Ich bin in Kreuzberg aufgewachsen, wo jede Religion und jede sexuelle Orientierung gelebt wurde. Wir haben einfach friedlich miteinander gelebt. Das wünsche ich mir hier auch. Ein Ort, an den alle kommen können: Kinder, Teenager, alte Menschen – einfach alle. Hier kann ich meine Berliner und Brandenburger Küche präsentieren.
Sie wurden durch Ihre spezielle Aromatik mit einer krassen Säure, Süße und Schärfe bekannt. Jetzt servieren Sie auf dem Fernsehturm Eisbein im Stile Ihrer Oma Gerda. Sind Sie altersmilde?
Gar nicht, das werden Sie schmecken. Natürlich wird das runter nivelliert. Es gibt Säure, Süße und pikante Noten. Es soll Spaßmachen.
Wie schmeckte das Eisbein Ihrer Oma Gerda?
Sie hat es mit Knoblauch gewürzt und zweierlei Kümmel verwendet. Es war ein grauer Fleischklumpen, der ein Kilo wog. Dazu gab es gestampfte gelbe Erbsen, Sauerkraut, Senf und ein paar Salzkartoffeln. Das Fleisch mochte ich, den Rest jedoch nicht. Wir nehmen jetzt ein Spanferkel, marinieren es 24 Stunden lang und garen es bei 140 Grad. Außen ist es hauchdünn knusprig, innen saftig.
In Ihrem Berlin-Menü gibt es Garnelencocktail KaDeWe als Vorspeise. Was bedeutet Ihnen dieses Kaufhaus?
Für mich stand das KaDeWe immer für Freiheit, aber auch dafür, Dinge zu sehen, die ich mir gerne kaufen würde, für die ich aber kein Geld hatte. Jahrzehntelang war es mein Hauptort für Inspiration, Spaß und Freude. Es war der einzige Ort, an dem ich etwas erleben konnte. Vor 25 Jahren gab es noch keine Delikatessenläden. Da bin ich als junger Koch in die Lebensmittelabteilung gegangen und konnte mir eine fingerdicke Scheibe Seeteufel kaufen. Als kleiner Junge durfte ich mit meiner Großmutter zwischen Weihnachten und Silvester ins KaDeWe gehen und mir drei Dinge aussuchen. Ich habe immer gebeizten Lachs genommen, oft noch eine Paté, aber das Highlight war immer der Garnelencocktail. Das war eine Achterbahnfahrt der Aromen, Texturen und Geschmäcker. Das hier ist die Variante, die man mit einer Küchenfläche von wenigen Quadratmetern hinbekommt.
Welche Herausforderungen gibt es, die Besuchenden im höchsten Gebäude Deutschlands zu verköstigen?
Das Ganze funktioniert hier wie ein Catering. Unten wird alles vorbereitet. Es gibt jedoch keinen Lastenaufzug, das heißt, man darf nur viermal am Tag hoch- und runterfahren. Wir haben eine Wasserpumpanlage installiert, damit wir nicht hunderte Wasserflaschen hochtransportieren müssen. Beim Berliner Schnitzel haben wir eine besondere Technik entwickelt. Es wird unten vorgebacken, damit wir es oben im Ofen nur noch regenerieren müssen. Die Entwicklung der Karte hat eineinhalb Jahre gedauert. Wir können hier nicht viele Gerichte zubereiten. Aus Brandschutzgründen darf nicht frittiert oder gekocht werden. Saucen dürfen beispielsweise nur erhitzt werden, Schmoren ist erlaubt, aber Braten nicht. Der Brandschutz ist hier auf einem Niveau wie in einem Flugzeug. Da muss man sich anpassen.
Es gibt aber auch ein Berliner Schnitzel, aber eher nicht traditionell aus Kuheuter.
Ich habe es tatsächlich probiert. Aber das will niemand mehr essen, glauben Sie mir. Das macht keinen Spaß. Es ist gallertartig und schwierig zu kauen.
Sie gehen insofern mit der Zeit, dass es sogar eine vegane Version eines Broilers, also Brathähnchens, gibt.
Ich koche im Hauptrestaurant seit Ewigkeiten vegan. Für die junge Generation ist das Teil ihres Lifestyles. Das ist doch großartig.
Es gibt Bananensplit und Spaghettieis. Warum ist Eis eigentlich so ein wichtiges Thema?
Ich bin süchtig danach. Ich kann auf Drogen, kann auf Alkohol verzichten. Aber ich kann mir nicht vorstellen, ohne Eis zu leben.
Nach was schmeckt Ihre Kindheit? Mit welchen Gerichten sind Sie aufgewachsen?
Falscher Hase, Königsberger Klopse, Garnelencocktail, Schnitzel, Grießpudding.
Wie steht es um die kulinarische Identität Berlins?
Berlin ist ein Ort der Zugezogenen. Es gibt großartige japanische und vietnamesische Restaurants sowie Pizzabuden. Was fehlt, ist eine regionale Identität, wie du sie im Süden als Gasthausküche definieren würdest. Das gibt es hier nicht. Es gibt nur Kneipen, in denen getrunken wird. Ich würde mich freuen, wenn sich die junge Generation von Köchinnen und Köchen mehr mit diesem Thema auseinandersetzen würde. Wie das funktionieren kann, sieht man in Städten wie Kopenhagen.
Sie reisen sehr viel hierzulande aber auch weltweit für verschiedene TV-Formate: Wie geht es der Gastronomie derzeit? Was ist Ihr Eindruck?
Wir stecken im zweiten Jahr der Rezession, davor war Corona. All das sind große Herausforderungen für viele Gastronomen. Das sorgt dafür, dass Konzepte und Preise überdacht werden müssen. Es geht vielen Branchen gerade nicht so prickelnd.
Zugleich erleben Köchinnen und Köche eine unglaublich mediale Aufmerksamkeit.
Hier in Deutschland hält sich das tatsächlich in Grenzen. Wir spielen ja keine gesellschaftliche Rolle. In Frankreich lädt Emmanuel Macron die hundert besten französischen Köchinnen und Köche zu sich in den Élysée-Palast ein und ehrt sie. Völlig zurecht. Köchinnen und Köche sorgen sich darum, dass die Menschen die besten Zutaten und Lebensmittel bekommen. Hier hingegen haben wir populistische Politiker, die irgendwelche Filialen von Fast-Food-Ketten besuchen und Lebensmittel in den Himmel loben, die unserem Körper nicht guttun, wenn sie nicht sogar krebserregend und schädlich sind. Und das ist immer noch ein großes Problem.
Ist Tim Raue, der immer viel Frittiertes aß, nun zum Gesundheitspapst geworden?
Das würde ich nicht sagen. Doch Frittiertes habe ich inzwischen gut im Griff. Das Eis ist meine Achillesferse. Ich gehe jedes Jahr zum Komplettcheckup in die Klinik, da wurde bei mir mit 48 Jahren festgestellt, dass vieles nicht so gut ist. Dann habe ich meine Ernährung umgestellt und habe zwanzig Kilo verloren. Einfach ist das nicht. Natürlich fehlt mir das Essen.
Sie sind ständig im Fernsehen bei „The Taste“, verantworten mehrere Restaurants und bespielen jetzt den Fernsehturm. Gibt es einen fleißigeren Koch als Sie in Deutschland?
Alle erfolgreichen Köche sind fleißig. Aber ich definiere das alles nicht als Arbeit. Ich bin nicht der Mensch für eine Sache, ich brauche mehrere Reize. Dafür bin ich eigentlich ganz einfach und schlicht. Ich brauche nicht viel, wenn ich frei habe. Das Reisen ist Teil meines Jobs – das ist doch ein ganz wunderbares Leben. Ich habe Spaß daran, anderen Menschen eine Freude zu machen. Das funktioniert natürlich nicht ohne eine Arbeitsmoral und Fleiß. Ich finde es schwierig, wenn Leute ständig über ihre Arbeitszeiten lamentieren. Für mich, der unterprivilegiert aufgewachsen ist, war es immer das Ziel, ein bürgerliches Niveau zu erreichen. Wir alle müssen etwas leisten. Natürlich muss niemand so viel arbeiten oder so leben wie ich. Ich arbeite von Montag bis Samstag, von morgens um sechs bis 23 Uhr. Aber es liegt ja an mir, ich könnte ja morgen aufhören. Es gibt niemanden, der mir etwas vorschreibt.
Da sind wir wieder bei der Frage: Was treibt Sie denn an?
Was soll ich denn dann machen? Ich war während Corona drei Tage zu Hause und habe auch mal Serien geschaut. Aber das hat mir nichts gegeben.
Tim Raue
Tim Raueist am 31. März 1974 in Berlin geboren. Er wächst in einfachen Verhältnissen auf, sein Vater ist gewalttätig. Als Jugendlicher war Raue Mitglied einer Straßengang. Das Restaurant Tim Raue ist ausgezeichnet: zwei Michelin-Sterne, 19,5 Punkte im Gault & Millau, und es ist auf der Liste der „50 Best Restaurants“. Raue ist zudem kulinarischer Berater der Colette-Brasserien und von Restaurants auf Kreuzfahrtschiffen. Sein jüngster Coup ist das Restaurant Sphere im Berliner Fernsehturm.