Nationalmannschaft
Neue Zeiten in der DFB-Elf – Münchner Mentalität statt VfB Deutschland
Der Bundestrainer Julian Nagelsmann vertraut in der WM-Qualifikation auf einen starken Bayern-Block. Er soll der Nationalmannschaft neuen Halt geben. Wir erklären wie.
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Drei Bayern-Profis, die der Nationalmannschaft Stabilität verleihen sollen: Aleksandar Pavlovic, Leon Goretzka und Jonathan Tah (von links)
Von Carlos Ubina
Wer Jonathan Tah außerhalb des Fußballplatzes kennenlernt, der erlebt einen jungen, freundlichen Mann, der seine Worte mit Bedacht wählt. Keine Frage ist ihm zu viel und keine Antwort lästig. Ein angenehmer Gesprächspartner, der Ruhe ausstrahlt. Auf dem Rasen ist er dann eine Art Abwehrbollwerk auf zwei Beinen. 1,95 Meter groß, 98 Kilogramm schwer, durchtrainiert bis in die letzte Muskelfaser. Da prallen die Stürmer schlichtweg ab. Wie vor zehn Tagen, als Tah mit dem FC Bayern im Pariser Prinzenparkstadion in einem tosenden Spiel stand – als Fels in der Brandung.
Doch dieses Spiel gegen Paris Saint-Germain ist im Rückblick nicht mehr nur eine faszinierende Champions-League-Begegnung zweier europäischer Edelclubs. Es ist momentan das Spiel schlechthin. Das bekommt auch Tah während der Vorbereitungstage der Nationalmannschaft in Wolfsburg zu hören. Der 2:1-Sieg der Münchner hat in Fußballdeutschland neue Maßstäbe gesetzt. Automatismen und Aufopferung, wohin die Bayern liefen. Intensität und Ideen, wohin sie die Kugel passten.
Bestes Anschauungsmaterial
Von diesem Auftritt will nun der Bundestrainer profitieren, denn die Partie zwischen dem deutschen Rekordmeister und dem französischen Königsklassengewinner bietet Julian Nagelsmann genau das Anschauungsmaterial, das er für die Nationalelf benötigt. Vor allem, was das gemeinschaftliche Verteidigen anbelangt. „Sie dürfen das gerne in der gleichen Intensität weitermachen“, sagt der Bundestrainer über den Bayern-Block, zu dem beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) außer Tah aktuell noch Joshua Kimmich, Leon Goretzka, Aleksandar Pavlovic und Serge Gnabry zählen.
Fünf Startelfkandidaten wären das grundsätzlich für die WM-Qualifikationsspiele an diesem Freitag (20.45 Uhr/RTL) in Luxemburg und am Montag (20.45 Uhr/ZDF) in Leipzig gegen die Slowakei – womöglich die entscheidende Partie um den Gruppensieg und damit das direkte Ticket zur Weltmeisterschaft im nächsten Jahr. Doch Kimmich fällt kurzfristig gegen Luxemburg aus. Zwei Siege sind dennoch angepeilt und die Ära des VfB Deutschland mit bis zu sechs Nationalspielern aus dem berauschten Stuttgart scheint schon wieder vorbei zu sein.
Jetzt soll die Münchner Mentalität helfen, auf den rechten Weg nach Nordamerika zu kommen. „Diesen Geist brauchen wir bei uns auch“, sagt Nagelsmann. So schwer sei es gar nicht, die neue Abwehrlust, aus der dann frische Angriffskraft entsteht, zu übertragen – meint Tah. Für den 29-Jährigen geht es um Grundelemente des Spiels. Höchste Intensität, geladene Energie und volle Überzeugung. „Das sind wirklich relativ simple Basics, die, wenn man sie gut als Mannschaft umsetzt, brutal unangenehm für jeden Gegner sein können“, sagt der Innenverteidiger.
Mit dem entscheidenden Unterschied zum DFB-Team, dass beim FCB der Chefcoach Vincent Kompany vor mehr als einem Jahr einen Prozess angeschoben hat, der sich seit dieser Saison serienmäßig auszahlt. Der anfänglichen Skepsis zum Trotz, da sich Kompany von gegnerischen Kontertoren und Niederlagen nicht hat beirren lassen. Er ist bei sich und seinen Spielprinzipien geblieben. Er hat die Abläufe im Training erarbeitet und verfeinert. Mittlerweile lässt Kompany einen Fußball spielen, in dem nach hinten alle Räume besetzt sind und er nach vorne der Kreativität freien Lauf lassen kann.
Der Bundestrainer hat kaum Zeit
„Die Bayern erzielen super viele Tore aus One-Touch-Aktionen“, erklärt Nagelsmann, „das sind nicht immer Superkombinationen, sondern ganz oft Ballgewinne, die sie dann mit einem Kontakt in der roten Zone spielen.“ Seine eigene Elf sei im Angriffsdrittel dagegen zuletzt „zu träge gewesen“. Also genau in dem Bereich, in dem es für den Gegner beginnt, gefährlich zu werden. „Leinen los“, gibt Nagelsmann deshalb ein neues Kommando. Bedeutet: weniger Kontrolle, mehr Risiko in der Offensive – aber alles auf Basis einer funktionierenden Defensive.
Schließlich genießt der Aufbau der Mannschaft und des Spiels aus der Abwehr heraus immer noch Priorität, wie der Bundestrainer betont. Das ist fachgerecht und dennoch weiß Nagelsmann, dass er nicht so viel Zeit hat wie Kompany, um mit dem DFB-Team ein System wie in München zu entwickeln. Zudem verfügt der Deutsche über ein anderes Trainernaturell als der Belgier.
Nagelsmann wechselt die Spielideen so schnell wie er spricht oder die Akteure austauscht. Umso wichtiger ist es, dass sich bald ein Mannschaftskern herausbildet, auf den sich der Bundestrainer verlassen kann und der Nagelsmanns Vorstellungen umsetzt– im Gleichgewicht der Kräfte zwischen Defensive und Offensive. Dafür vertraut der Ex-Münchner neuerdings auf den starken Bayern-Block mit den einfachen Prinzipien. „So kommen wir in den Flow, in das Spiel“, sagt Tah mit der ihm eigenen Besonnenheit.
