Alarmierende Studien der Uni Hohenheim
Pestizide wirken teils 11 000 Mal stärker als angenommen
Neue Studien zeigen, dass Pflanzenschutzmittel nicht auf den Äckern bleiben, auf die sie gespritzt wurden, und dass ihre Auswirkungen auf Tiere verheerend sein können. Was tut das Land, um diese negativen Folgen einzudämmen?

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Auch auf Kartoffelfeldern werden Pflanzenschutzmittel eingesetzt.
Von Thomas Faltin
Bei diesem Faktor muss man drei Mal schlucken: Auf bestimmte Insekten wirkt das Spritzmittel Mospilan rund 11 000 Mal giftiger als es nach den Empfindlichkeitstests, die für die Zulassung eines Pestizids vorgeschrieben sind, zu vermuten gewesen wäre. Das haben der Insektenforscher Jan Erik Sedlmeier und seine Kollegen von der Universität Hohenheim in einer neuen Studie herausgefunden. Dabei sind drei verschiedene Arten von Weichwanzen untersucht worden. Obwohl diese Wanzen gar nicht zu den „Zielinsekten“ des Spritzmittels gehören, waren nach zwei Tagen 92 Prozent der Tiere tot und zwar selbst an den Feldrändern, die nur ein bis zwei Drittel des Mittels abbekommen haben.
Mospilan mit dem Wirkstoff Acetamiprid ist ein Nervengift und das einzige noch in Deutschland zugelassene Mittel der Gruppe der sogenannten Neonikotinoide. Sedlmaier fordert dringend eine grundlegende Reform des Zulassungsverfahrens – die Wirkstoffe dürften nicht nur an wenigen Insekten wie Honigbienen geprüft werden. Auch müssten die Feldränder deutlich besser geschützt werden. Johannes Enssle, der Chef des Nabu-Landesverbandes, formuliert nicht so nüchtern, sondern sagt: „Pestizide wirken sich extrem negativ auf die Artenvielfalt und insbesondere auf Insekten aus.“ Die bisherige Risikobewertung im Zulassungsverfahren sei „eklatant mangelhaft“.
Giftiger Sprühnebel schwebt mehrere hundert Meter weit
Auch andere Studien lassen keinen Zweifel mehr daran, dass Pflanzenschutzmittel negative Auswirkungen auf die Umwelt haben. So hat die TU Kaiserslautern-Landau jüngst nachgewiesen, dass sich Pestizide trotz aller Vorkehrungen und Vorschriften weiträumig in der Landschaft ausbreiten. Eine dieser Vorschriften in Baden-Württemberg besagt etwa, dass ein Traktor beim Spritzen fünf Meter Abstand zum nächsten Gewässer halten muss. Konkret wurden in der Studie 78 nicht-landwirtschaftliche Gebiete entlang des Rheins zwischen Schweizer Grenze und Pfälzer Wald untersucht – in 76 Gebieten wurden Pestizide in Pflanzen, Boden und Gewässer gefunden, obwohl dort selbst keine Mittel ausgebracht worden sind. An einer Messstelle in Rheinland-Pfalz wurden in einem Gewässer sogar 39 verschiedene Mittel detektiert. Es sei stark zu vermuten, dass die Sprühnebel mehrere hundert Meter weitergetragen würden, so die Studie von Ken M. Mauser und Kollegen.
Auch das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung hat vor einigen Jahren nachgewiesen, dass in vier von fünf kleinen Bächen und Wassergräben in der Agrarlandschaft mindestens ein Pestizid über dem Grenzwert liegt. Oft waren es ebenfalls mehrere Pestizide – das Problem ist, dass kaum bekannt ist, welche Wirkungen solche Cocktails auf die Tiere haben. Auch die Landeswasserversorgung (LW), die in Baden-Württemberg drei Millionen Menschen mit Trinkwasser versorgt, weist in der Donau regelmäßig Pflanzenschutzmittel nach, etwa Glyphosat. An manchen Stellen liegen die Werte über dem Grenzwert, der für Menschen gilt. „Man muss aber auch viel mehr auf die Insekten schauen, die viel schneller reagieren als der Mensch“, sagt LW-Sprecher Bernhard Röhrle.
Die LW hatte aufgrund ihrer Messergebnisse Daten vom Agrarministerium verlangt, wo im Wasserschutzgebiet Donauried-Hürbe welche Mengen an Pestiziden ausgebracht würden. Diese Daten wurden lange verweigert, erst nach dem Gang zum Verwaltungsgerichtshof in Mannheim habe der Trinkwasserversorger Tausende von Blättern, teils lose in Kartons, übergeben bekommen, sagt Röhrle. Nach einer aufwändigen Aufbereitung der Daten kam die LW zum Ergebnis, dass in den Jahren 2018 bis 2020 rund 383 Tonnen an reinen Pestizid-Wirkstoffen im Wasserschutzgebiet ausgebracht worden sind. „Diese Mengen belegen eindrücklich, was auf den hydrogeologisch sensiblen, weil flachgründigen Ackerböden der Schwäbischen Alb Jahr für Jahr passiert“, so Röhrle. Im Grundwasser sind die Stoffe zum Glück noch nicht angekommen. Das belastete Wasser wird aufbereitet und mit sauberem Grundwasser gemischt – beim Verbraucher kommt weiter unbedenkliches Trinkwasser an.
In der Tendenz sind alle diese Erkenntnisse nicht neu. Bereits vor fünf Jahren hatte sich das Land deshalb im sogenannten Biodiversitätsstärkungsgesetz verpflichtet, den Einsatz von chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln bis 2030 um 40 bis 50 Prozent zu senken. Zudem soll der Anteil der ökologisch bewirtschafteten landwirtschaftlichen Fläche auf 30 bis 40 Prozent gesteigert werden. Bei beiden Zielen kommt das Land aber nur mäßig voran. So lag der Flächenanteil des Öko-Landbaus 2023 (das ist die neueste verfügbare Zahl) bei 14 Prozent. 2020 bei Einführung des Gesetzes waren es 12,3 Prozent gewesen.
Um 13 Prozent ist die Menge an Spritzmitteln gesunken
Die Menge an Pestiziden ist laut dem jüngsten Bericht des Landwirtschaftsministeriums um 13 Prozent gegenüber dem Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019 zurückgegangen. Diese Zahl gilt für 2022, das laut der Landesanstalt für Umwelt ein trockenes Jahr war. Die Wirkstoffmenge für das ganze Land lag bei knapp 2000 Tonnen. In feuchten Jahren muss tendenziell mehr gespritzt werden, vor allem gegen Pilze. Insofern könnte der Rückgang auch nur witterungsbedingt so hoch sein. 2020 betrug der Rückgang neun Prozent, 2021 fünf Prozent.
Man sei damit auf dem richtigen Weg, hatte der Landesbauernverband bei der Veröffentlichung des Berichts betont. Grundsätzlich könne auf Pflanzenschutzmittel aufgrund des Krankheits- oder Schädlingsdrucks meist nicht vollständig verzichtet werden, auch angesichts der Tatsache, dass immer wieder neue invasive Arten einwanderten, wie die Schilf-Glasflügelzikade.
Jochen Goedecke vom Nabu-Landesverband sieht das ganz anders: Nach aktueller Entwicklung werde das Land seine Ziele nicht erreichen. Im Gegenteil zeige sich, dass Minister Peter Hauk (CDU) „an schärferen Regeln für Pestizide nicht interessiert ist“. Bei der letzten Agrarministerkonferenz habe er sich für eine Aufweichung des Zulassungsverfahrens ausgesprochen, mit Notfallzulassungen umgehe er Verbote von Pflanzenschutzmitteln, etwa bei Glyphosat in Wasserschutzgebieten, so Goedecke.
Derzeit werden im Auftrag des Landes auf 40 Höfen im Land Maßnahmen entwickelt, um die Menge an Spritzmitteln zu senken. Es geht dabei um die Wahl von Sorten, die weniger krankheitsanfällig sind. Aber es geht auch um die Förderung von Nützlingen oder um eine andere Bearbeitung des Bodens, damit weniger Unkraut wächst. Trotzdem räumt das Ministerium im Bericht selbst ein, dass mit niederschwelligen Maßnahmen nur maximal zehn Prozent der Pestizide eingespart werden könnten. „Höhere Reduktionsgrade lassen sich nur mit aufwändigeren technischen Lösungen erreichen“, heißt es im Bericht, und dabei würden schnell die „Grenzen der wirtschaftlichen Umsetzbarkeit“ erreicht. Eine Anfrage an das Landwirtschaftsministerium wurde bis Fristende nicht beantwortet.
Naturschützer und Wissenschaftler schlagen eine andere Lösung vor: Wenn Pflanzenschutzmittel mit einer Steuer belegt würden, habe jeder Landwirt ein noch größeres Interesse daran, dass er möglichst wenig Spritzmittel kaufen muss. Außerdem könnten diese Steuergelder dann für den Naturschutz verwendet werden.