Mord des Polizisten Rouven Laur
Selbstmordanschlag in Mannheim?
Wollte der mutmaßliche Attentäter vom Mannheimer Marktplatz, Sulaiman A., beim Mord des Polizisten Rouven Laur selbst sterben? Ermittlungsergebnisse sprechen für diese These.

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Menschen haben zum Gedenken an Rouven Laur am Tatort auf dem Mannheimer Marktplatz niedergelegt. „Bis heute werden Kerzen entzündet und Blumen gebracht“, sagt ein Arzt des nahe gelegenen Gesundheitsamts der Stadt.
Von Franz Feyder
Den eigenen Tod nehmen Terroristen des „Islamischen Staates“ (IS) und al-Qaidas oft zumindest in Kauf oder suchen ihn sogar. Auch, weil, so ihnen ihre Ideologie, sie erwarteten himmlische Freuden mit 72 Jungfrauen im Paradies, dies verspricht. Ermittlungsergebnisse legen nahe, dass das auch der mutmaßliche Mannheimer Attentäter Sulaiman A. so sah.
Was spricht vor dem 5. Senat des Stuttgarter Oberlandesgerichts dafür, dass Sulaiman A. sich bei dem mutmaßlichen Anschlag auch selbst ermorden wollte?
Der Vorsitzende Richter Herbert Anderer konfrontierte A. in dessen Befragung, er habe am Abend vor der Bluttat auf dem Mannheimer Marktplatz am 31. Mai 2024 Haare und Bart besonders gepflegt und gestutzt. Ein zwar kein verpflichtendes religiöses Ritual für Attentäter, aber ihnen aus psychologischen und taktischen Gründen sehr wichtig. Die Pflege soll helfen, sich emotional und gedanklich vom bisherigen Ich zu trennen. Der Akt wird als „letzter Schritt“ zwischen Leben und Märtyrertum verstanden. Das Ritual wurde zu Beginn der 2000er Jahre von palästinensischen Attentätern begründet und zunächst im Irak, dann weltweit von Terroristen mit islamistischen Motivation übernommen. Es steht psychologisch für einen „sauberen Übergang“ ins Paradies und verspricht ihnen zudem Tarnung. In manchen Fällen wie bei den Anschlägen in der USA am 11. September 2001 rasierten die Attentäter ihre Bärte gar ganz ab.
Was sagt ein Zeuge im Stuttgarter Verfahren aus?
Der Sulaiman A. am Tatort versorgende Ersthelfer sagte aus, A. habe sich mit Händen und Beinen dagegen gewehrt, versorgt zu werden. Als der Arzt aus dem nahe gelegenen Gesundheitsamt bei ihm ankam, habe bereits ein Polizist die durch den Schuss eines Polizisten entstandene Bauchwunde zugedrückt, um die Blutung abzuschwächen. Er habe diese Maßnahme übernommen. „Subjektiv hatte ich das Gefühl, der Angeklagte wehrte sich dagegen.“ Dieser Widerstand sei mit der Zeit geringer geworden. Dies könne aber auch auf die starke Blutung zurückzuführen sein. Auf die Frage eines Verteidigers sagte er, objektiv könne er keine Parameter benennen, an denen er das festmache. Es bleibe jedoch sein Bauchgefühl. Der Mord Rouven Laurs habe die Stadt nachhaltig verändert: „Wir sind ruhiger geworden“, sagte der Arzt.
Was bedeutet Selbstmordanschlag für islamistisch motivierte Terrorgruppen?
Für Terrororganisationen ist es kein Selbstmord, sondern der Märtyrertod – ein ultimativer Akt der Hingabe. Fast immer veröffentlichen die Gruppen Bekenntnisse, in denen von „Soldaten Gottes“ die Rede ist, der oder die im Kampf gegen die Ungläubigen sein und Leben gelassen haben. Solche Anschläge spielten sich in den vergangenen Jahrzehnten oft ab - von Paris und Brüssel über Bagdad bis Kabul. Selbstmordattentate sind zu einem Markenzeichen des modernen islamistischen Terrorismus geworden und werden von ihren Urhebern mit einem umfassenden Narrativ aus Glaube, Opfermut und Propaganda aufgeladen. Islamwissenschaftler des Bundeskriminalamtes sagten jedoch aus, sie hätten selbst im nur speziell zugänglichen Darknet keine Bekennerbotschaften irgendeiner Terrorgruppe für Mannheim entdeckt. Dafür registrierten sie „Beifall islamistischer Heißsporne“.
Wie begründen Terrorgruppen, dass sie Menschen als Waffe einsetzen?
Für selbst ernannte Gotteskrieger haben Selbstmordanschläge einen beinahe mythischen Stellenwert. Aus ihrer Sicht verwandelt sich der Attentäter im Moment seines Todes zu einem Märtyrer – arabisch „shahid“. Ihm würden höchste Ehre und himmlische Belohnung zuteil. Obwohl der Islam Selbstmord streng verbietet, stilisieren die Terrorgruppen den eigenen Tod im Kampf als gottgefälliges Opfer. Oft zitieren sie die Koransure 9:111 zur Rechtfertigung: „Allah hat von den Gläubigen ihr Leben und ihr Gut erkauft, dafür, dass ihnen das Paradies gehört: Sie kämpfen für Allahs Sache; sie töten und werden getötet.“ So wird Terroristen das Paradies im Austausch für ihr Leben versprechen. Man spricht von „Märtyrer-Operationen“ statt von Selbstmordattentaten. Es gehe um ein höheres Ziel, nicht um den Tod aus Verzweiflung. Ideologen wie Yusuf al-Qaradawi argumentieren, der Attentäter töte nicht sich selbst, sondern agiere als „heroische Waffe gegen die Feinde des Islam“.
Wie wird ein Selbstmordanschlag von den Terrorgruppen verkauft?
In bekannten Abschiedsvideos von Attentätern mischen sich religiöse Inbrunst und propagandistische Botschaften. Nicht selten zitieren sie dafür die Sure 3:169 aus dem Koran: „Und wähnt nicht, dass diejenigen, die auf Allahs Weg getötet wurden, tot seien; denn sie leben“. Für zu allem entschlossene Fanatiker ist das ein Trost – der Tod erscheint ihnen nicht endgültig, sondern als Übergang zu einem besseren Dasein. Viele Attentäter glauben fest daran, dass sie im Jenseits für ihre Tat belohnt werden. Hadithe, also überlieferte, dem Propheten Mohammad zugesprochene Aussagen und Handlungen, versprechen dem „shahid“ Vergebung aller Sünden und himmlische Freuden. In manchen Ausprägungen kursiert die Vorstellung von den „72 Jungfrauen“, die auf einem Märtyrer im Paradies warten.
Was lehrt die klassische islamische Theologie?
Sie vertretende Rechtsgelehrte und Theologen positionieren sich zu Selbstmordattentaten eindeutig dagegen. Sie berufen sich dafür auf die Sure 4:29: „Und tötet euch nicht selbst; Allah ist wahrlich barmherzig mit euch.“ Zudem führen sie die Hadith 1365 an und warnen: „Wer sich selbst tötet, wird im Höllenfeuer ewig diese Tat wiederholen.“ Selbstmord gilt im Islam als schwerste Sünde, die dem Vertrauen auf Gott und des vom ihm gelenkten Schicksals widerspricht. Seit Jahrhunderten wird in der islamischen Welt klar zwischen dem ehrenvollen Tod in einer Schlacht und dem verbotenen Freitod wie bei Attentaten unterschieden.
Was sagen zeitgenössische Gelehrte?
Zeitgenössische Islamgelehrte haben wiederholt klargestellt, dass Selbstmordattentäter keine Märtyrer, sondern Sünder seien. Sie würden „in die Hölle eilen“, formulierte 2013 der saudische Großmufti Abd al-Aziz al-Sheikh, und geißelte Selbstmordanschläge als „schweres Verbrechen“. Auch Fatwas – islamische Rechtsgutachten – wie die des pakistanischen Gelehrten Muhammad Tahir-ul-Qadri verdammen Selbstmordattentate als unislamisch. Islamische Ethik legt großen Wert auf den Schutz des Lebens; das Prinzip der Heiligkeit des Lebens gehört zu den fünf höchsten Zielen der Scharia, der islamischen Rechtsordnung. Für Gelehrte sind die Selbstmordattentäter keine kämpfenden Helden, sondern Menschen, die göttliches Verbot brechen und Unheil über Schuldige wie Unschuldige bringen.