Reformmuslim Abdel-Hakim Ourghi
„Viele Muslime brauchen Juden als Feind“
Der Freiburger Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi ist über den Antisemitismus unter Migranten alarmiert – eine Gefahr, die nicht verdrängt werden darf, sagt er.

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Der liberale Muslim Abdel-Hakim Ourghi: „Wir haben ein massives Problem an Schulen und Hochschulen.“
Von Michael Weißenborn
In Deutschland hat man die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus unter Muslimen zu lange gescheut, beklagt der Freiburger Islam-Dozent Abdel-Hakim Ourghi. Doch nach den Gräueln der Hamas am 7. Oktober 2023 dürften Judenhass und politischer Islam nicht länger ignoriert werden, so der liberale Muslim.
Herr Ourghi, nach der Frage zu den religiösen Wurzeln des Antisemitismus im Koran treibt Sie nun der islamische Antisemitismus von heute um. Warum?
Islamischen Antisemitismus hat es in Deutschland immer gegeben – verbale oder sogar körperliche Bedrohungen gegen jüdische Menschen. Aber nach den Massakern der Hamas am 7. Oktober 2023 wurde klar, wie sehr der islamische Antisemitismus unter vielen Muslimen auch hierzulande verbreitet ist. Man findet ihn auf den Straßen und in den Schulen. Und das ist alarmierend.
Sie gehen in Ihrem neuen Buch bis an die Schmerzgrenze im Detail auf die Barbarei der Hamas ein. Warum?
Am 7. Oktober verfolgte die Hamas die Absicht, so viele Menschen zu töten und Frauen systematisch zu vergewaltigen wie möglich, um unter den Israeli Furcht zu verbreiten und die Seele der Juden überall auf der Welt zu treffen. Diese Gewalt überschreitet alle Grenzen. Eine bittere Tatsache: Unter den ersten Opfern befanden sich viele linke Israeli aus den Kibbuzim, die Palästinenser unterstützt haben und von einem friedlichen Zusammenleben träumten. Die Taten zeigen, dass der radikal-politische Islam keine Kompromisse kennt. Sie sollten Politikern und Kirchen die Augen dafür öffnen, dass eine Zusammenarbeit mit dem politischen Islam gefährlich ist.
Haben Politik und Kirchen in Deutschland beim islamischen Antisemitismus zu lange weggeschaut?
Man dachte immer, es handele sich nur um Einzelfälle. Dass es einen systematischen islamischen Antisemitismus auch in westlichen Ländern, in Frankreich, England und auch bei uns in Deutschland gibt, wollte man nicht wahrhaben. Dabei haben wir ein massives Problem an Schulen und in vielen Hochschulen. In Berlin-Neukölln und in anderen Großstadtvierteln mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung gibt es sogenannte befreite Zonen. Dort sind jüdische Menschen, aber auch Homosexuelle in Gefahr.
Wie konnte es geschehen, dass die Hamas für weite Teile der Linken, des Kulturbetriebs und der akademischen Welt zur Befreiungsbewegung wurde?
Diese Leute sehen Palästinenser nur in einer Opferrolle und Juden als Sündenböcke, allein verantwortlich für die Misere der Palästinenser. So lassen sich die eigenen Schuldgefühle übertragen. Außerdem ist der Opferstatus auch eine Form der Machtausübung. Damit sollen die Handlungsspielräume der Israeli eingeschränkt werden. Und die Gewaltorgie am 7. Oktober soll gewissermaßen als gerechtfertigt und geradezu unausweichlich erscheinen. Der 7. Oktober hat aber klar gemacht, dass es sich bei der Hamas um Terroristen handelt. Es ist ein Totalversagen von Teilen der Linken und der Feministinnen, die über die systematische Vergewaltigung von Frauen hinwegsehen. Die Würde der Frau ist unantastbar – außer wenn die Opfer Jüdinnen sind.
Unter den Muslimen in Deutschland hat es nach dem 7. Oktober 2023 keinen Aufschrei gegeben. Wie erklären Sie sich das?
Da sind zuallererst die islamischen Dachverbände zu nennen, die selbst ernannten Vertreter der Muslime in Deutschland. Diese sind streng konservativ ausgerichtet, gleich, ob es um den Zentralrat der Muslime oder die türkische Ditib geht. Sonst gerne und eloquent in der Öffentlichkeit, schwiegen sie zur Verantwortung der Hamas am 7. Oktober. Es gab allenfalls Lippenbekenntnisse. Für den Frieden zwischen Juden und Palästinensern setzen sie sich nicht ein. Stattdessen – und das habe ich selbst erlebt – wird in den Verbandsmoscheen am Freitag für den Sieg der Palästinenser gebetet.
Sie beklagen, dass es Antisemitismus nicht nur unter Anhängern radikaler Strömungen gibt, sondern unter vielen Muslimen. Warum ist das so?
Viele Muslime gehen nicht sachlich und differenziert mit dem Nahostkonflikt um. Da werden die Palästinenser nur als Opfer und nicht auch als Täter gesehen. Anscheinend brauchen viele Muslime die Juden als Feind, der ihnen die Kraft gibt, sich zu vereinen und mit einer Stimme zu sprechen. Deshalb ist der Antisemitismus bei ihnen so erfolgreich.
Führen Sie Ihre Studenten auch in die Welt islamistischer Influencer in den sozialen Medien ein?
Wir sensibilisieren unsere Studierenden gegen den islamischen Antisemitismus. Wir klären auf und vermitteln die Grundlagen für ein friedliches Zusammenleben. Dazu gehört eine historisch-kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, der Geschichte der Gewalt im Islam. Wir legen Wert auf interreligiöses Lernen und suchen nicht nur nach Differenzen und Ähnlichkeiten zwischen Judentum, Christentum und Islam, sondern sprechen auch Konflikte offen an.
Was halten Sie vom Vorwurf der Anthropologin Esra Özyürek, der deutsche Umgang mit der Vergangenheit schließe Muslime aus und mache sie pauschal zu Antisemiten?
Das ist eine gewagte These, die darauf hindeutet, dass die Forscherin keine fundierten Kenntnisse über das Leben in Deutschland hat. Ab der 9. Klasse setzt man sich in der Schule mit dem Nationalsozialismus auseinander. Für Muslime, die hier leben, ist es wichtig, dass sie mit der Geschichte Deutschlands vertraut sind und erfahren, dass sechs Millionen Juden in diesem Land umgebracht wurden. Sie müssen Teil dieser Aufklärungsarbeit und Erinnerungskultur werden, Konzentrationslager besuchen und aktiv am Dialog in Synagogen und jüdischen Gemeinden teilnehmen.
Vorkämpfer eines liberalen Islams
Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi, 57, stammt aus Algerien. Der Bürgerkrieg brachte ihn zum Studium nach Freiburg. An der dortigen Pädagogischen Hochschule (PH) baute er den Studiengang für islamische Religionspädagogik auf. Die konservativen Islamverbände versuchten, ihm die Lehrerlaubnis zu entziehen. Mit seinen Wortmeldungen und Büchern kämpft er seit Jahren gegen ein rückwärtsgewandtes Islamverständnis und wurde so zu einem der liberalen Köpfe in der muslimischen Community in Deutschland.
Buch Sein neues Buch „Die Liebe zum Hass. Israel, 7. Oktober 2023“ über den – zumindest in Deutschland – bisher wenig beachteten Antisemitismus unter Muslimen erscheint am 8. Mai.