Vom Leben nicht gerade verwöhnt

Anna Maria Huber (1802 bis 1905) hat sich durchgekämpft als Dienstmädchen, Mutter unehelicher Kinder, später als arbeitssame Ehefrau und Witwe. In hohem Alter wurde sie Opfer eines Trickbetruges. Gebrochen hat sie all das nicht. Sie wurde 103 Jahre alt.

1902 feierte Anna Maria Huber ihren 100. Geburtstag, für diese Zeit ein ungewöhnlich hohes Alter. Vom württembergischen Königspaar erhielt sie Geschenke, unter anderem eine Prachtbibel. Mit ihr wurde später für den Luftkurort Murrhardt geworben, wie die Postkarte zeigt. Fotos: Carl-Schweizer-Museum

1902 feierte Anna Maria Huber ihren 100. Geburtstag, für diese Zeit ein ungewöhnlich hohes Alter. Vom württembergischen Königspaar erhielt sie Geschenke, unter anderem eine Prachtbibel. Mit ihr wurde später für den Luftkurort Murrhardt geworben, wie die Postkarte zeigt. Fotos: Carl-Schweizer-Museum

Von Elisabeth Klaper

MURRHARDT. Nicht erst heute, auch schon in der vermeintlich „guten alten Zeit“ wurden Senioren Opfer von Trickbetrug. Ein Beispiel ist Anna Maria Huber, nach 1900 älteste Einwohnerin der Walterichstadt. Wegen ihres damals außergewöhnlich hohen Alters wurde sie berühmt und zur Werbefigur für den Luftkurort. Über ihr Leben sind indes nur einige Details bekannt, worüber die „Murrhardter Zeitung“ und das „Neue Stuttgarter Tagblatt“ anlässlich ihres Todes 1905 berichteten.

Geboren wurde Anna Maria Huber am 5. Februar 1802 in Hohenwarth, was damals im Gebiet des Oberamtes Pforzheim im Großherzogtum Baden lag. Schon als vierjähriges Kind war sie verwaist, daher übernahm eine ältere Schwester die Aufgabe der Erziehung. Bereits mit zwölf Jahren arbeitete das Mädchen, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Der Hinweis, sie sei in verschiedenen Diensten gestanden, lässt darauf schließen, dass sie Dienstmädchen war.

In ihrem 19. Lebensjahr verliebte sich die junge Frau in einen Landjäger (Bezeichnung für Polizeikräfte, die mit Ordnungsaufgaben in ländlichen Gebieten betraut waren), woraus sich eine engere Verbindung entwickelte, die sich jedoch wieder auflöste, was sie noch im höchsten Alter beklagte. Heimatgeschichtsforscher Christian Schweizer hat recherchiert, dass aus dieser Beziehung sowohl ein Sohn als auch eine Tochter hervorgingen. Der Sohn wanderte in die USA aus, indes ist unbekannt, in welchem Alter und welchem Jahr. Erst als 33-Jährige heiratete Anna Maria den aus Rudersberg stammenden Anstaltsschuhmacher Huber in Lichtenstern. Er zog später in die Walterichstadt und baute in der Karlstraße gegenüber dem Gasthof zum Schwanen ein Häuschen. Der tüchtige Meister war langjähriges Mitglied des Kirchengemeinderats. Bis zu seinem Tod 1887 im Alter von 84 Jahren hat Anna Maria Huber in 52-jähriger kinderloser Ehe mit ihm gelebt und 1885 goldene Hochzeit gefeiert. Als über 80-jährige Witwe begann Anna Maria Huber, ihr Leben stärker zu genießen. Bisher hatte sie vor allem nach den schwäbischen Tugenden Sparsamkeit, Fleiß und Ehrlichkeit gelebt. Zwei Maximen waren ihr wichtig: Keine Geschenke annehmen, Dinge lieber selbst erwerben, so ist man niemand etwas schuldig und (die Beziehung) wird nicht verdorben. Und: Ehrlich währt am längsten.

Der Sohn wollte dem kargen Leben entkommen, das Streben nach Genuss lehnte die Mutter ab.

Es gelang ihr, sich zuerst das Geld für ein Häuschen, dann für ein Gärtchen und zuletzt für ein Stück Land zu erarbeiten und zusammenzusparen, wobei ihr Mann sie tatkräftig unterstützte. Ihr Sohn aber war in ihren Augen ein Taugenichts, da nicht sparsam. Stattdessen wollte er das Leben genießen und verlangte jeden Sonntag eine Brezel, die ihm als höchster Genuss vorschwebte. Da ihm dies aber versagt blieb, verschwand er eines Tages spurlos und hinterließ seiner Mutter nur einen Zettel mit den Worten: „Ich komme erst wieder, wenn ich mir Brezeln kaufen kann, so viel ich will.“

Trotzdem betrachtete es die alte Huberin als ihre Pflicht, auf ihren Sohn zu warten. Sollte er wiederkommen und sich die Sonntagsbrezel kaufen können, sollte es ihr recht sein. Andernfalls wäre es ihr größter Triumph, ihm an ihrem Beispiel zu zeigen, dass man jenseits dieses Wunsches zu etwas kommen kann. Unerschütterlich glaubte sie, ihren Sohn wiederzusehen, und tatsächlich bekam sie eines Tages einen Brief von ihm. Darin schrieb er ihr, dass er in Amerika sei und es ihm sehr gut gehe. Er hätte es zu etwas gebracht und könne ihr nun zum Dank für ihre guten Lehren einen schönen Lebensabend bereiten. Darum sollte sie alles verkaufen und zu ihm kommen.

Die alte Huberin war gerührt, sie hatte es ja immer gewusst, dass ihr Sohn ein guter Junge war! Nach dem Tode ihres Mannes verkaufte die 88-jährige Witwe ihren gesamten Besitz und reiste in die USA zu ihrem Sohn. Auf dem Schiff kamen ihr indes Bedenken, sodass sie von ihrem Kapital 1500 Mark als Notreserve nahm und es sich sorgfältig in den Strumpf einnähte, der bis übers Knie hinaufreichte, wo sie das Geld am sichersten verwahrt glaubte. Als sie in New York ankam, empfing sie ihr Sohn an der Anlegestelle. Sie hätte ihn nicht wiedererkannt, er aber kam auf sie zu, sagte „Mutter“ und führte sie in ein Kaffeehaus.

Dort erzählte er ihr, wie gefährlich es in New York wegen der vielen gerissenen Diebe sei, deshalb sollte sie ihm das mitgebrachte Geld übergeben, bei ihm sei es sicher. Vertrauensselig übergab sie ihm das in einem Kuvert befindliche Geld, das sie umständlich aus ihrem Mieder herausnestelte. Dann wollten sie in seine Wohnung gehen, doch in dem riesigen Strom von Menschen verlor die alte Huberin, die noch nie in einer größeren Stadt gewesen war, ihren Sohn aus den Augen. Plötzlich stand sie allein da und irrte umher, bis sich jemand ihrer erbarmte und sie auf eine Polizeiwache brachte, wo man einen Dolmetscher holte. Da stellte sich heraus, dass die Adresse ihres Sohnes nicht stimmte. Er war spurlos verschwunden und meldete sich auch nicht, um seine verlorene Mutter in Empfang zu nehmen. Nach drei Monaten vergeblichen Wartens holte Anna Maria Huber den Rest ihres Geldes aus dem Strumpf und trat die Heimreise an. Sie weigerte sich zu glauben, dass sie einem Schwindler in die Hände gefallen sei oder dass ihr Sohn einen gemeinen Trickbetrug an ihr begangen habe. Wieder zu Hause, fing sie von vorn zu arbeiten an, wohnte in einem gemieteten Zimmer, pachtete einen Acker, baute Kartoffeln an, las Ähren, wusch Wäsche und wartete auf die Rückkehr ihres Sohnes. Sie gab nicht mehr aus, als sie unbedingt musste, aber nahm auch keine Gaben an. Das war ihr Stolz, den ließ sie sich nicht nehmen. Sie wurde krumm und konnte kaum mehr aufrecht gehen, wies aber jede Hilfe ab.

Nachdem sie sich zwei Jahre bei Verwandten in Rudersberg aufgehalten hatte, kam sie wieder nach Murrhardt. Dort betreute und pflegte man sie über vier Jahre als verarmte Bewohnerin im Spital im Schafhaus. 1902 feierte Anna Maria Huber ihren 100. Geburtstag „in seltener Rüstigkeit“. Seitdem war sie gewissermaßen das Wahrzeichen Murrhardts. Zu diesem außergewöhnlichen Ehrentag besuchte Königin Charlotte die Jubilarin, erzählt Christian Schweizer. Vom württembergischen Königspaar erhielt sie reichliche Geschenke wie eine Prachtbibel und edlen, alten Rotwein. Anna Maria Huber trank nur ein Glas des wunderbaren Weins und verwahrte ihn wie ein teures Kleinod.

Die verarmte Anna Maria Huber verbrachte ihre letzten vier Jahre im Spital des Schafhauses.

In den Schaufenstern der Walterichstadt sah man auf Souvenirs wie Postkarten, Glas- und Porzellanwaren das Bild der alten Huberin. „Bis zum letzten Augenblick bei vollem Bewusstsein und ihrem Charakter treu, starb sie mit heiterem Humor am Freitag, 10. März, vormittags 11 Uhr im Alter von 103 Jahren, einem Monat und fünf Tagen“ als älteste Einwohnerin der Walterichstadt. In ihrem Zimmer fand man noch zehn Flaschen alten Rotwein, nur aus einer Flasche fehlte ein Drittel. Der Erlös aus dem Verkauf des Weines reichte für ihre Verpflegungs- und Begräbniskosten.

Anna Maria Huber hinterließ eine Urenkelin, in ihrer Heimatstadt aber noch lange das Bild der „alten Huberin“. So avancierte sie zur Werbefigur für die gesunde Lage des damaligen Luftkurorts und beliebtes Ziel zur „Sommerfrische“, also Ferien, für die Einwohner des Großraums Stuttgart. Denn damals lebte in der Walterichstadt bereits eine unverhältnismäßig große Zahl hochbetagter und rüstiger Senioren. In der neuen stadtgeschichtlichen Abteilung des Carl-Schweizer-Museums sind eine Souvenirtasse mit dem Bild von Anna Maria Huber und die Prachtbibel mit eigenhändigem, persönlichem Widmungsschreiben der Königin Charlotte und der Unterschrift des Königs Wilhelm II. von Württemberg ausgestellt.

„Nur aus einem Eintrag auf der Rückseite der Bibel geht hervor, dass sie eine uneheliche Tochter hatte, von der es bis heute Nachkommen gibt“, erklärt Schweizer. Von dieser wusste man vorher offenbar noch nichts, oder sie wurde einfach verschwiegen – aufgrund der damals herrschenden strengen sittlich-moralischen Vorstellungen und der pietistischen Frömmigkeit. Anna Maria Hubers vorehelicher Sohn war bereits 1903 in den USA im Alter von 83 Jahren verstorben, ob sie davon erfuhr, ist jedoch unklar. Über ihn existieren laut Christian Schweizer keine Akten in Murrhardt, und auch die noch lebenden Nachfahren haben ebenfalls keine weiteren Informationen über ihn.

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Erstellt:
26. November 2020, 06:00 Uhr

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