Grundsteuer-Erhöhung in Tübingen?
Von 270 auf 360 Prozent – Palmer will Hebesatz deutlich nach oben schrauben
Der Grundsteuer-Hebesatz soll rückwirkend über den aufkommensneutralen Wert hinaus hochgesetzt werden. Der Gemeinderat stimmt nun darüber ab.

© dpa/Bernd Weißbrod, Horst Haas
Das Haus von Finanzminister Danyal Bayaz (li., Grüne) hat den Hebesatz-Korridor bei der Grundsteuer B für Tübingen erhöht. OB Boris Palmer (parteilos) schlägt seinem Gemeinderat einen deutlich höheren Wert vor.
Von Florian Dürr
Sein Mitleid halte sich in Grenzen, sagt Boris Palmer mit Blick auf mögliche empörte Grundstückseigentümer, die sich bald über Mehrkosten bei der Grundsteuer beschweren könnten. Denn der parteilose Tübinger OB will mit seiner Verwaltung zwar den Hebesatz der Grundsteuer B nochmals deutlich nach oben schrauben, aber „viele werden das nicht merken“, ist der Ex-Grüne überzeugt. Auch wenn er den frühen Zeitpunkt selbst „ärgerlich“ findet.
Von derzeit 270 Prozent auf 360 Prozent soll der Hebesatz steigen – rückwirkend zum 1. Januar, wie die Stadt mitteilte. Tübingen ist offenbar die einzige Kommune in Baden-Württemberg, die von der gesetzlichen Option zur rückwirkenden Hebesatz-Erhöhung (bis zum 30. Juni möglich) Gebrauch macht.
Ohne Steuererhöhungen müssten laufende Bauvorhaben gestoppt werden
Da bei der Berechnung der Grundsteuerkosten auch mit dem Hebesatz der jeweiligen Kommune multipliziert wird, bedeutet die Ankündigung am Ende: mehr Steuern für alle Grundstückseigentümer in Tübingen. Es handele sich aber um „eine vertretbare Mehrbelastung“, heißt es von der Stadt. An diesem Donnerstag muss der Gemeinderat über den vorgeschlagenen Wert abstimmen.
Denn irgendwoher müsse das Geld kommen, um das trotz etlicher Sparmaßnahmen verbliebene 7,6-Millionen-Loch im Tübinger Haushalt zu stopfen: Die Genehmigung des Haushaltes könne jetzt „nur noch durch Steuererhöhungen“ erreicht werden, argumentiert die Verwaltung in einer Vorlage für die Gemeinderatssitzung. „Andernfalls würde die Stadt keine neuen Kreditermächtigungen erlangen können und sogar laufende Bauvorhaben stoppen müssen, weil sie nicht mehr über die nötigen Geldmittel zur Begleichung der Rechnungen verfügen würde“, heißt es.
Haus&Grund: Palmer meine, Eigentümer „auspressen zu können“
Der Verband Haus&Grund Württemberg, der sich für die Interessen der Grundstückseigentümer einsetzt, teilt über seinen Vorsitzenden Sebastian Nothacker mit: „Wir lehnen eine Haushaltssanierung auf dem Rücken der Grundstückseigentümer ab.“ Der Vorwurf lautet: Palmer meine, die Eigentümer „ungestraft auspressen zu können“. Gar eine Warnung spricht der Verbandsvorsitzende aus: „In Anbetracht der Unzuverlässigkeit der Tübinger Kommunalpolitik, kann man nur jeden davor warnen, in Tübingen in Wohnraum zu investieren.“
Nothacker spielt damit auf die Probleme bei der Grundsteuerberechnung in der Unistadt an sowie die nun rückwirkende Erhöhung des Hebesatzes. „Wenn man als OB und Gemeinderat einigermaßen verlässliche Politik machen will, dann muss man den Bürgern die Garantie geben, dass der beschlossene Hebesatz für 2025 gilt“, sagte Nothacker bereits Ende April. Denn im vergangenen Jahr beschloss der Tübinger Gemeinderat einen zu niedrig angesetzten Hebesatz: Mit dem Wert von 270 Prozent würden für das Jahr 2025 rund zwei Millionen Euro in der Stadtkasse fehlen – Geld, auf das die Stadt in der angespannten Haushaltslage nicht verzichten kann.
Aufkommensneutraler Hebesatz reicht nicht, um Haushaltsloch zu schließen
Tübingen hatte sich am sogenannten Transparenzregister des baden-württembergischen Finanzministeriums orientiert. Ein Instrument für Bürgerinnen und Bürger, um die möglichen aufkommensneutralen Hebesätze für eine bestimmte Stadt oder Gemeinde abzurufen. Das Versprechen der „Aufkommensneutralität“ bedeutet: Die jeweilige Stadt sollte den Hebesatz so wählen, dass sie durch die Grundsteuerreform im Jahr 2025 in etwa so viel Geld einnimmt wie vor der Reform. Doch „der vom Finanzministerium vorgegebene Hebesatzkorridor, der als Basis für die Festsetzung diente“, war „nicht realistisch“, hieß es vonseiten der Stadt Tübingen.
Als das Ministerium dann vor kurzem die möglichen aufkommensneutralen Hebesätze für die Stadt korrigierte (auf 269 bis 297 Prozent), kündigte Palmer an, dieses Mal nicht in der Mitte dieses Korridors zu liegen, sondern einen Hebesatz von 300 Prozent als „neutralen Wert“ anzusehen. Doch selbst dieser über dem Maximalwert des Ministeriums liegende Hebesatz reiche nicht aus, um die Lücke im Haushalt zu schließen, heißt es jetzt.
Palmer bezeichnet Diskussion über Grundsteuer als „maßlos überzogen“
Deshalb sei „neben der Gewerbesteuer auch bei der Grundsteuer eine weitere Erhöhung erforderlich“, lautet die Schlussfolgerung in einer weiteren Vorlage zur Grundsteuer B. Auf jetzt 360 Prozent. OB Palmer will dies aber mit Blick auf die Aufkommensneutralität nicht als gebrochenes Versprechen verstehen, denn angesichts der dramatischen Finanzlage vieler Städte und Gemeinden in Deutschland befinde sich auch Tübingen in einer völlig neuen Situation.
Man nutze die Grundsteuer-Reform nicht, um „heimlich die Steuer zu erhöhen“, verteidigt er sich: „Wir sind in der aktuellen Lage gesetzlich dazu verpflichtet, unsere Einnahmen zu verbessern“, sagt Palmer – während bei Grundstückseigentümern die Ausgaben künftig steigen werden (sollte der Gemeinderat an diesem Donnerstag zustimmen). Als eine „maßlos überzogene“ bezeichnet der OB die Diskussion über die Grundsteuer-Belastung – und verweist auf die Höhe der Grundsteuer in Tübingens Partnerstadt Ann Arbor: „In Amerika ist die zehnmal höher als bei uns.“
Kritik am Transparenzregister des Finanzministeriums
AblehnungDer Gemeindetag Baden-Württemberg hat das Transparenzregister „von Anfang an abgelehnt“, wie ein Sprecher gegenüber unserer Zeitung bereits Ende April mitteilte. Denn Städte und Gemeinden könnten „in unbegründete Erklärungsnöte geraten“, wenn der „tatsächlich aufkommensneutrale Hebesatz vor Ort in manchen Fällen legitimer Weise oberhalb des Hebesatzkorridors liegen könnte“, hieß es.
Aufkommensneutral48 von 179 Gemeinden in der Region Stuttgart liegen beim Hebesatz der Grundsteuer B über der vom Finanzministerium empfohlenen Obergrenze. Das ergab eine Recherche unserer Zeitung, für die wir die neuen Hebesätze mit dem im Transparenzregister festgelegten Korridor abgeglichen haben. Das legt den Verdacht nahe, dass ein starkes Viertel der Kommunen in der Region die Grundsteuerreform anders als vom Gesetzgeber gewünscht nicht aufkommensneutral umsetzt, sondern insgesamt mehr Grundsteuer von ihren Bürgern einzieht.