Von der Gaststätte zur Anlaufstelle

Das Haus in der Murrhardter Bahnhofstraße, das bei einem Brand 2021 zerstört wurde, wird neu aufgebaut. In den 1960er-Jahren fanden sich in dem nun abgerissenen Gebäude Seniorinnen und Senioren beim Altenclub ein – eine Begegnungsstätte, die Unternehmer Erich Schumm schuf.

Der Schriftzug „Restauration“ an der Fassade verweist auf die Ära des Gebäudes als Gastwirtschaft im 19. Jahrhundert. Nach dem Brand war es nicht mehr zu retten. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Der Schriftzug „Restauration“ an der Fassade verweist auf die Ära des Gebäudes als Gastwirtschaft im 19. Jahrhundert. Nach dem Brand war es nicht mehr zu retten. Foto: A. Becher

Von Christine Schick

Murrhardt. Eine kostenlose warme Mahlzeit, beheizte Räume und Begegnungen mit anderen Menschen in einer ähnlichen Situation – das war das Angebot des Altenclubs, den der Unternehmer Erich Schumm am 5. Februar 1963 in Murrhardt eröffnete. Eine Initiative, der die Abendschau zehn Tage später einen ausführlichen Beitrag widmete: Nüchtern wird festgestellt, dass das Bild eines idyllischen Lebensabends auf dem Lande im Kreise von Enkeln und in der gewohnten Umgebung der Realität nicht standhält. Nicht wenige leben isoliert, ohne soziale Kontakte und sind auf eine Rente angewiesen, die nicht die kleinste Freude ermöglicht, heißt es in dem Fernsehbeitrag. Da ist die 80-Jährige, die früher als Rotkreuzschwester gearbeitet hat und aus dem Sudetengau kommt. Ein Senior zeigt Bilder von seinen drei gefallenen Söhnen und erzählt, dass er heute sein Zimmer mit den hohen Decken einfach nicht warm bekommt. Eine 70-jährige Frau weiß nicht, wie sie das restliche Geld für Holz und Kohle aufbringen soll, und ihre Augen- und Herzprobleme machen es ihr schwer, Kontakte zu knüpfen. Es bleiben ihr drei Vögel, die ihr zugeflogen sind und mit denen sie sich unterhält, erzählt sie.

Es geht um konkrete Hilfe wie eine warme Suppe und ums Thema Einsamkeit

„Die Großfamilie gibt es nicht mehr“, heißt es in der Abendschau. Dass sich Erich Schumm damals des Themas annahm, hat ebenfalls mit einer Fernsehsendung zu tun. Dem Reporter berichtet er, zuvor einen Beitrag über alte Menschen in Berlin gesehen zu haben, die einsam und verlassen in ihren Wohnungen oder Zimmern ihr Dasein fristeten. Im Gespräch mit dem Murrhardter Bürgermeister wurde klar, dass die Hoffnung, das Problem existiere in der Walterichstadt vielleicht gar nicht, begraben werden musste. Nach einer Schätzung waren es damals über 100 alte Menschen, die mit einer vergleichbaren Situation kämpften.

Also wurde der Unternehmer aktiv. Die Idee: eine Tagesstätte schaffen, in die Seniorinnen und Senioren pilgern können und in der sie Tee, Kaffee und eine warme Suppe bekommen. Und hier kommt die Bahnhofstraße 9 ins Spiel. Auf der Suche nach einem Standort für den künftigen Altenclub kam die ehemalige Gaststätte der Familie Steißlinger in den Blick. Vor dem Abriss des Gebäudes war auf der von der Verkleidung befreiten Fassade noch „Restauration“ zu lesen. Ursprünglich lautete der komplette Schriftzug „Restauration zum Bahnhof“, der auf das frühere Gasthaus verweist, wie Christian Schweizer vom Carl-Schweizer-Museum berichtet. Entlang der Straße zum Murrhardter Bahnhof entwickelte sich ab 1880 eine neue Bebauung im damaligen Stil, auch war der Standort an diesem Mobilitätsknotenpunkt, wie man heute sagen würde, für Gaststätten prädestiniert. Aus der „Restauration um Bahnhof“ wurde später „Kuglers Bierhalle“, danach führte Wilhelm Weiler das Haus bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs weiter. 1959 umgebaut, stieg die Wirtsfamilie Steißlinger dort ein, allerdings gab sie die Gastronomie nach rund vier Jahren auf, sodass schließlich der Altenclub einziehen konnte.

Rainer Hirzel erinnert sich noch gut an diese Anfänge und das allmähliche Bekanntwerden der sozialen Initiative. „Bundespräsident Heinrich Lübke kam 1967, um sich den Altenclub anzusehen“, erzählt der ehemalige Stadtrat. „Er hat Erich Schumm bei dem Treffen als ‚Herr Murrhardt‘ angesprochen.“ Inwieweit Lübke damit den Einfluss des Unternehmers innerhalb der Stadt im Sinn gehabt hat, ist nicht bekannt. Aber das Projekt und Engagement für finanziell nicht so gut gestellte Seniorinnen und Senioren lag Erich Schumm am Herzen, für das er auch seine sonstigen Kontakte nutzte.

Schumm aktiviert Murrhardter, die ein Auto haben, und organisiert Ausfahrten

Als Vorsitzender des ADAC Murrhardt beispielsweise organisierte er zudem Ausfahrten, die für die Seniorinnen und Senioren etwas ganz Besonderes waren, erzählt Hirzel. „Alle, die damals schon ein Fahrzeug hatten, wurden eingespannt, die alten Leutchen eingesammelt, und es gab meist auch einen Abschluss in der Stadthalle.“

In den Anfängen hat Schumm den Clubmitgliedern, wie die Besucher hießen, auch in alltagspraktischen Dingen Unterstützung angeboten. Im Abendschaubericht ist von einem Check und Anpassung der Brillengläser, orthopädischen Schuhen und einem Kohlenpaket die Rede. Das Fernsehteam würdigt den Unternehmer insofern als jemanden, der die Not nicht nur festgestellt, sondern auch etwas zur Linderung beigetragen habe. Rainer Hirzel ergänzt, dass das Engagement des Murrhardter Ehrenbürgers im Bau des Erich-Schumm-Stifts mündete. Es nicht auf der grünen Wiese zu errichten, sondern innerhalb der Stadt, wo die Bewohnerinnen und Bewohner noch möglichst viel vom Leben mitbekommen, war damals in vergleichbarer Weise fortschrittlich, sagt er. So entstand rund zehn Jahre später das Alten- und Pflegeheim an der Fornsbacher Straße auf dem ehemaligen Areal des Murrhardter Krankenhauses, auf das in jüngster Zeit das Neubauprojekt schräg gegenüber folgte.

Mit der Eröffnung des Erich-Schumm-Stifts als Gesamtkomplex 1973 ist der Altenclub in die Räumlichkeiten dort eingezogen. Seine Arbeit wurde auf verschiedenen Ebenen fortgesetzt, beispielsweise gibt es auch heute noch in Kooperation mit dem Murrhardter Krankenpflegeverein das Sonntagscafé, bei dem Seniorinnen und Senioren aus der Stadt mit den Bewohnerinnen und Bewohnern des Stifts zusammenkommen können.

Als Vorsitzender des ADAC Murrhardt organisierte Erich Schumm (hinten) Ausflugsfahrten für Seniorinnen und Senioren. Foto: MZ-Archiv

Als Vorsitzender des ADAC Murrhardt organisierte Erich Schumm (hinten) Ausflugsfahrten für Seniorinnen und Senioren. Foto: MZ-Archiv

Auch Patenschaften helfen

Ziel und Aktivitäten In einem geschichtlichen Abriss der Erich-Schumm-Stiftung wird der Unternehmer bei der Eröffnung des Altenclubs zitiert: „In Murrhardt darf es in Zukunft keine einsamen Alten mehr geben.“ Das Gründungsdatum des Altenclubs war am 23. Dezember 1962, die Eröffnung am 4. Februar 1963. Zu Beginn steht die direkte Hilfe im Vordergrund – warme Decken, Kleidung, eine kostenlose Tasse Kaffee am Nachmittag und eine warme Suppe am Abend. Murrhardterinnen und Murrhardter konnten für monatlich fünf Mark eine Patenschaft übernehmen und so die alten Menschen unterstützen. Zudem sollten Veranstaltungen und gemeinsame Unternehmungen das Gefühl vermitteln, dass auch das Alter lebenswerte Momente hat. Es gab beispielsweise Filmvorführungen, Lichtbildvorträge, Lesenachmittage, Geburtstagsfeiern und besagte Ausfahrten. Ende 1963 zählte der Altenclub 235 Mitglieder.

Film Der Beitrag über Schumms Engagement findet sich in der ARD-Mediathek unter dem Link https://tinyurl.com/mrya65jx.

Neubau Das Gebäude in der Bahnhofstraße 9 wird als Dreifamilienwohnhaus wiederaufgebaut. Der Gemeinderat hat dem Antrag zugestimmt inklusive einer etwas reduzierten Stellplatzanzahl (vier statt sechs) aufgrund der Bahnhofsnähe.

Zum Artikel

Erstellt:
19. Januar 2022, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Lesen Sie jetzt!

Murrhardt und Umgebung

Warenspenden brechen immer mehr weg

Das Team der Tafel Murrhardt engagiert sich ehrenamtlich dafür, dass Bedürftige verbilligte Lebensmittel im Laden in der Weststadt einkaufen können. Doch die Sachspenden gehen weiter zurück, sodass mittlerweile Geldspenden verwendet werden, um Waren zu kaufen.

Murrhardt und Umgebung

Herantasten an künftige Herausforderungen

Bei „Politik&Pizza“, einem Abend der Volkshochschule Murrhardt und der Landeszentrale für politische Bildung, geht es um Lösungsansätze drängender Probleme. Eine Stadträtin und drei Stadträte skizzieren ihre Positionen und die Stoßrichtung ihrer jeweiligen Gemeinderatsfraktion.