Erster Internet-Heiliger der katholischen Kirche
War Carlo Acutis wirklich so fromm und heilig?
Der Italiener starb 2006 mit 15 Jahren an Krebs. Am Sonntag spricht der Papst den „Influencer Gottes“ heilig. Aber war der Jugendliche wirklich so fromm und heilig?

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„Bitte an Carlo Acutis“: Wer ganz nah bei Jesus und Carlo Acutis sein will, kann dieses fromme Bittgebet an den neuen Heiligen richten.
Von Markus Brauer/dpa
Heilig: Ein heute für die meisten eher befremdlich sich anhörendes Wort. Es klingt nach würzigem Weihrauch, Beten auf harten Holzschemeln, karges Entsagen aller irdischen Freuden und viel körperliche und seelische Mühsal.
Heilige sind nach dem Verständnis der katholischen Kirche Menschen, die durch einen vorbildhaft christlichen Lebensstil auffallen und als besonders glaubensstark gelten. Im „Katechismus der Katholischen Kirche liest man über den Stand der Heiligkeit: „Wenn die Kirche gewisse Gläubige heiligspricht, das heißt feierlich erklärt, dass diese die Tugenden heldenhaft geübt und in Treue zur Gnade Gottes gelebt haben, anerkennt die Kirche die Macht des Geistes der Heiligkeit, der in ihr ist. Sie stärkt die Hoffnung der Gläubigen, indem sie ihnen die Heiligen als Vorbilder und Fürsprecher gibt.“
„In Treue zur Gnade Gottes gelebt“
Am nächsten Sonntag (7. September) ist es wieder so weit. Dann wird Papst Leo XIV. in Rom den mit 15 Jahren verstorbenen Carlo Acutis zu Ehre der Altäre heben – sprich heiligsprechen. Der Sohn aus einer reichen Mailänder Familie wird damit der erste Heilige aus der Generation der Millennials – also jener, die zwischen 1980 und 1999 geboren wurden. Carlo Acutis wäre heute gerade mal 34 Jahre alt.
Auf dem Petersplatz im Vatikan werden zu der feierlichen Zeremonie mehr als 100.000 Gläubige erwartet. Eigentlich sollte das schon am diesjährigen Sonntag nach Ostern geschehen, aber dann starb Papst Franziskus. Alle Termine wurden abgesagt.
Jetzt holt sein Nachfolger die Erhebung des Teenagers in den Heiligenstand mit fünf Monaten Verspätung nach. Der Vatikan legt auf diese Kanonisierung – wie es offiziell heißt – großen Wert. Die Entscheidung an sich wird dort von niemandem infrage gestellt.
Freude über den neuen Geldbringer
Szenenwechsel: Auf dem Corso Giuseppe Mazzini, im Zentrum der Pilgerstadt Assisi in der Region Umbrien, haben sie mit dem Devotionalienhandel große Erfahrung. Hier werden seit vielen Jahrzehnten Andenken an den Mann verkauft, der den kleinen Ort in Umbrien weltweit bekannt gemacht hat und dort auch begraben liegt: Franz von Assisi (1181-1226). Das Geschäft mit Holzfiguren, Bildern und Rosenkränzen läuft bestens. Souvenirshops reihen sich dicht an dicht.
In der Stadt des Heiligen gibt es einen neuen Geldbringer, den sie inzwischen den „kleinen Bruder von Franz“ nennen. An manchen Tagen verkaufen die Händler jetzt mehr Devotionalien von Carlo Acutis als vom mittelalterlichen Heiligen.
Auf den ersten Blick war Carlo Acutis ein gewöhnlicher Junge in Jeans, Sneakers und rotem Polohemd, wie auf Fotos zu sehen ist. Doch schon bald wird sein Name im "Martyrologium Romanum", dem offiziellen Heiligenverzeichnis der katholischen Kirche, stehen. Und das ist ganz und gar nicht mehr gewöhnlich.
Influencer Gottes, Cyber-Apostel
In den Verlautbarungen des Kirchenstaats liest sich Acutis’ Leben wie gemacht dafür, um jüngere Leute wieder an den katholischen Glauben heranzuführen: ein „kleines Computergenie“, ein „Influencer Gottes“, ein „Cyber-Apostel“, ein „Heiliger unserer Zeit“.
Die römisch-katholische Kirche, die vor allem in Europa mit einem Schwund an Gläubigen zu kämpfen hat, kann so jemanden wie ihn gut gebrauchen. Und die Kirche ist von jeher pragmatisch genug, das Leben von Verstorbenen für ihre Zwecke zu "instrumentalisieren".
„Ein Seliger oder Heiliger, der wird ja in der Kirche nicht irgendwie von von oben herab verordnet, sondern das geschieht immer von unten her, dass Menschen jemanden im Gedächtnis behalten“, erklärt der deutsche Pilgerseelsorger in Assisi, der Franszikanerbruder Thomas Freidel OFM gegenüber „Vatikan News“.
„Die einzige Frau in meinem Leben ist die Jungfrau Maria“
Carlo Acutis war kein normaler Jugendlicher - sonst würde er wohl auch kaum heiliggesprochen werden. Er wurde 1991 in London geboren, wo sein Vater in der Finanzwelt arbeitete, und dort auch getauft. Kurz darauf bekam der Vater einen neuen Job in Mailand. In der Nähe von Assisi, mitten in Umbrien, hat die Familie heute noch ein Ferienhaus. Vor allem über sein Kindermädchen, so die Erzählung, fand Carlo früh den Weg zum Glauben.
Mit sieben Jahren empfing er die Erstkommunion – soweit nicht ungewöhnlich. Später kam er dann auf eine Jesuitenschule, wo er für die dortige Kirche Computerprogramme schrieb, Webseiten entwarf und eine Datenbank mit vermeintlichen Wundern bastelte.
Pornoseiten sind tabu
Der Mutter erzählte Carlo, dass er sich mit dem Gedanken trage, Priester zu werden. Freunde ermahnte er angeblich, nicht auf Pornoseiten zu gehen. Ein kluger Rat des frommen Jugendlichen. Denn das Anschauen von Pornografie - genauso wie Selbstbefriedigung oder homosexuelle Praktiken - gehört zu den Sünden, die schwer gegen die "Keuschheit" verstoßen (Katechismus der Katholischen Kirche, 2396). Der junge Carlo selbst soll behauptet haben: „Die einzige Frau in meinem Leben ist die Jungfrau Maria.“
Mitten in der Pubertät aus dem Leben gerissen
Anfang Oktober 2006 bekam Carlo Acutis eine schreckliche Diagnose: akute Leukämie. Kurz darauf fiel er ins Koma. Am 12. Oktober 2006 starb er. Ein trauriges Schicksal für den Teenager und seine Familie - wie für so viele anderen junge Menschen, die mitten aus dem Leben gerissen werden.
Für den verstorbenen Carlo begann indes der Weg zum Heiligen, gefördert von einflussreichen kirchlichen Kreisen und den Eltern. Mehrfach wurde der Leichnam umgebettet, von einem Dorffriedhof bis in die Wallfahrtskirche Santa Maria Maggiore nach Assisi. Vergangenes Jahr kamen eine Million Menschen dorthin, auch viele Schulklassen.
Ohne postmortale Wunder wird niemand heilig
Selig- und Heiligsprechungen laufen nach einem komplizierten, mehrstufigen Verfahren ab. Dafür wird das Leben der Kandidaten akribisch durchleuchtet. Einst begann das frühestens 50 Jahre nach dem Tod. Heute kann es hingegen sehr schnell gehen, wie das Beispiel des 2005 verstoreben Papstes Johannes Paul II. zeigt. Der polnische Pontifex wurde am 1. Mai 2011 von Benedikt XVI. in Rom selig- und am 27. April 2014 von Franziskus heiliggesprochen
Nur 14 Jahre nach seinem Tod – in der Kirchengeschichte ein Wimpernschlag – wurde auch Carlo Acutis seliggesprochen. Grund dafür war die Wunderheilung eines brasilianischen Jungen, der seine Gebete auch an Acutis richtete.
Im Mai 2024 erkannte der damalige Papst Franziskus das für eine Heiligsprechung notwendige zweite Wunder an, das der Verstorbene vollbracht haben soll. Eine junge Frau wurde auf unerklärliche Weise nach dem an Acutis gerichteten Gebet von einer Krankheit geheilt.
Ein Toter in Jeans und Turnschuhen
Carlo Acutis sterblichen Überreste liegen nun in einem Sarkophag mit Glasscheibe, durch die man hineinschauen kann. Der tote Junge trägt Jeans und Turnschuhe. In die Hände hat man ihm einen Rosenkranz gelegt. Gesicht und Hände wurden mit Silikon nachmodelliert. Gegenüber steht eine steinerne Bank für Besucher, die länger bleiben wollen. Aber die meisten gehen doch eher schnell vorbei. Fotografieren ist verboten.
Acutis Schuldfreund sät Zweifel
Manchen geht die Heiligwerdung inzwischen ziemlich schnell - zu schnell. Zudem gibt es bei Carlo Acutis Zweifel, ob er tatsächlich so fromm und heiligmäßig war. Einer seiner besten Schulfreunde, Federico Oldani, erzählte der Wochenzeitung „The Economist“, dass er mit Carlo kein einziges Mal über Jesus gesprochen habe. Auch den Satz „Die Eucharistie ist meine Autobahn in den Himmel“, der seinem toten Freund nun überall zugeschrieben wird, hörte Oldani niemals.
Unheiliger Kommerz um einen Heiligen
In den Souvenirgeschäften in Rom und Asissi ist so gut wie alles rund um Carlo Acutis im Angebot: Jutebeutel, T-Shirts, Medaillons, Anhänger, Rosenkränze, sogar Kühlschrank-Magneten. Der Preis für eine Figur in Standardgröße: um die 45 Euro. Auf Bestellung kann man sich Carlo Acutis aber auch in Lebensgröße schnitzen lassen – für 5000 Euro.
Auch im Verkaufsraum der Kirche, in der Acutis nun liegt, gibt es Figuren en masse von ihm. Der Rektor der Gemeinde, Franziskanerpater Marco Gaballo, erklärt: „Die Leute wollen etwas haben, an das sie sich erinnern können. Dann ist das in Ordnung für mich.“
Auch online wird viel Geld mit der Heiligsprechung des Teenagers gemacht. Auf Webseiten sind vermeintliche Reliquien im Angebot. Eine Locke, die angeblich von Acutis stammt, wurde kürzlich für 2110 Euro verkauft. Das war der Kirchenführung dann doch zu viel. Der Bischof von Assisi, Domenico Sorrentino, stellte Strafanzeige. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den unheiligen Trittbrettfahrer, der nur auf Penukinäres aus war.
Info: Heiligsprechung
Advocatus Dei Das Heiligenwesen in seiner heutigen Form wurde im Jahr 1588 von Papst Sixtus V. geregelt. Im frühen Mittelalter hatte noch das Kirchenvolk für sich entschieden, wen es für heilig hielt. Ab dem Hochmittelalter trat anstelle dessen ein kirchenrechtlich genau festgelegter Prozess. Darin werden vom sogenannten Verteidiger Gottes (Advocatus Dei) Argumente für die Heiligsprechung vorgebracht, während seine Konterpart, der Anwalt des Teufels (Advocatus Diaboli), dagegen argumentiert.
Päpstlicher Rekordhalter Papst Johannes Paul II. (1920–2005) hält den Kanonisierungs-Rekord: Während seines Pontifikats (1978–2005) sprach er 1316 Personen selig und 483 heilig. Bis 1983 waren für Seligsprechungen bis zu vier und für Heiligsprechungen drei weitere Wunder erforderlich. Johannes Paul II. ließ die Zahl auf je eine wundersame Tat reduzieren.
Selige und Heilige Voraussetzung für die Selig- und Heiligsprechung ist, dass man im Kirchenvolk verehrt wird und die Person überdurchschnittlich tugendhaft gelebt hat. Sollte der Betreffende als Märtyrer gestorben sein, reicht das „Blutopfer“ aus. Ein rund 70-köpfiges Gremium der vatikanischen Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse – Theologen, Juristen und Mediziner – durchstöbert Krankenakten und klinische Berichte, begutachtet Röntgenbilder, liest Zeugenaussagen und wälzt ganze Bibliotheken an Büchern und Unterlagen. Mit einer wissenschaftlichen Exaktheit und Akribie, dass man meinen könnte, es gehe um die Lösung eines Kriminalfalls.
Kanonisierungen Regulär dauern Seligsprechungen – welche die Vorstufe zur Heiligsprechung sind – Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte. Die vatikanischen Expertisen gehören zu einem komplizierten Verfahren, das wissenschaftlich hieb- und stichfest nachweisen soll, was an einem Wunder so unerklärlich sein soll. 2004 wurde das „Martyrologium Romanum“ aktualisiert, das alle 6650 Heilige und Selige sowie 7400 Märtyrer auflistet.