Bundeswehr
Was fehlt der Bundeswehr für die Wehrpflicht?
Die Vorbereitungen für einen verpflichtenden Wehrdienst werden konkreter. Doch um wieder Tausende zusätzliche Soldaten auszubilden, braucht es mehr Kasernen und Ausbilder.

© Henning Kaiser/dpa
Die Pläne von Verteidigungsminister Pistorius sehen auch die Option für einen verpflichtenden Dienst vor.
Von Tobias Heimbach
Es ist nur ein Wort im Koalitionsvertrag, das eine kleine Tür aufstößt. Und die hat es in sich: Im Kapitel zur Verteidigungspolitik heißt es: „Wir schaffen einen neuen attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert.“ Entscheidend ist das Wort „zunächst“ – und es wird immer deutlicher, dass die Bundesregierung gewillt ist, durch diesen Spalt zu gehen, den sie sich damit eröffnet hat. Derzeit ist das Gesetz für einen neuen Wehrdienst in Arbeit. Es soll in den kommenden Wochen verabschiedet werden soll und unter anderem den Wehrdienst attraktiver machen. Doch nicht nur.
Was Pistorius nun zum ersten Mal verriet: Das Gesetz soll auch Mechanismen für eine mögliche Rückkehr der Wehrpflicht beinhalten. „Mein Ziel ist es, dass das Gesetz, was ich jetzt einbringe, bereits zwei Regelungen enthält, die dann nur noch aktiviert werden müssen, wenn die Zahlen nicht reichen“, sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) am Sonntagabend in der ARD.
Bundeswehr hat mehr als Hundert Kasernen aufgegeben
Die Debatte um die Wehrpflicht wird also immer konkreter geführt, doch derzeit ist die Bundeswehr nicht bereit dafür, Tausende oder gar Zigtausende Rekruten im Jahr auszubilden. Was fehlt der Bundeswehr konkret?
Meist sind dabei vor allem zwei Dinge zu hören: Kasernenplätze und Ausbilder. Pistorius selbst rechnete vor, dass die Bundeswehr seit Anfang der 1990er Jahre rund 130 Kasernen aufgegeben habe. Nicht nur stehen die Gebäude nicht mehr zur Verfügung, auch die Grundstücke wurden oftmals verkauft oder anders genutzt.
Ein weiteres Problem: Im Bemühen den Dienst attraktiver zu machen, hat man in früheren Jahren mancherorts auf Einzelstuben in den Kasernen umgestellt. Das ist zwar komfortabel, aber so sinkt die Zahl der Soldaten, die man unterbringen kann. Pistorius kommentierte das so: „Das wäre zu meiner Zeit als Wehrpflichtiger Anfang der 1980er Jahre ein Traum gewesen – das hat’s aber nirgendwo gegeben.“
Dennoch betonte Pistorius: „Dieser ganze Raum für Material, Ausrüstung und Unterbringung fehlt komplett und muss wieder aufgebaut werden. Das schnell zu machen ist eine Herkulesaufgabe.“ In der Tat zeigt der Infrastrukturbericht der Bundeswehr, dass die Bautätigkeit gesteigert wurde. Doch ausreichen dürfte das Tempo noch längst nicht.
Die zweite Herausforderung betrifft die Ausbildung von möglichen künftigen Wehrpflichtigen. „Theoretisch können viele Soldaten ausbilden. Aber wenn die jeden Tag ausbilden, dann fehlen sie für die Einsatzfähigkeit der Truppe“, sagte Pistorius. Das könne man sich angesichts der Sicherheitslage in Europa nicht erlauben.
Auch der Bundeswehrverband sieht die Ausbildung als entscheidendes Nadelöhr. Der Vorsitzende André Wüstner rechnete kürzlich im Interview mit der „Welt am Sonntag“ vor: „Wenn ich beispielsweise die 5000 zusätzlichen freiwillig Wehrdienstleistenden für dieses Jahr nehme: Bei einer Gruppenstärke von zwölf Soldaten braucht es dafür bereits rund 420 Gruppenführer mehr in der Ausbildung. Die wird man zunächst aus aktuellen Aufträgen herauslösen müssen.“ Solche Rechnungen will man im Verteidigungsministerium nicht kommentieren.
Der Reservistenverband fordert einen völlig anderen Ansatz. „Um die Grundlagen zu vermitteln, braucht es erst einmal keine zusätzlichen Ausbilder – jede Einheit kann ausbilden“, sagt Präsident Patrick Sensburg im Gespräch mit dieser Redaktion. Er wählt einen eingängigen Vergleich: „Es gibt ja auch keine Ausbildungsbäckereien, sondern es wird im echten Handwerksbetrieb ausgebildet“, sagt Sensburg.
Er verweist darauf, dass die Ausbildung in den regulären Einheiten bei der Bundeswehr auch früher die Regel war. Fast jedes Bataillon sei für eine Grundausbildung herangezogen worden. „Als ich 1991 meinen Wehrdienst absolviert habe, gab es rund 300.000 Zeit- und Berufssoldaten sowie fast 200.000 Wehrpflichtige“, sagte Sensburg. Das sei damals möglich gewesen. Er fordert ein Ende der Ausflüchte. „Wir müssen nicht immer wieder neue Gründe erfinden, um die Wehrpflicht zu verhindern, ohne die es nicht gehen wird“, sagt er.
Für spätere Verwendungen etwa in der Panzertruppe oder für Sanitäter brauche es natürlich spezialisierte Ausbildungskapazitäten, über die die Bundeswehr auch verfüge. „Aber ein Großteil der Ausbildung für den normalen Wehrdienstleistenden kann die reguläre Truppe stemmen.“
Reservistenverband fordert 150.000 Wehrpflichtige pro Jahr
Statt also auf Ausbilderstellen zu pochen, dringt Sensburg auf etwas anderes: „Entscheidend ist, dass die Ausstattung vorhanden ist: Gewehre, Munition, ABC-Ausrüstung, Drohnen und ausreichend Kasernen.“ Er nennt auch eine konkrete Zahl, von Wehrpflichtigen, die ihm vorschwebt: „Meiner Ansicht nach braucht die Bundeswehr rund 100.000 bis 150.000 Wehrpflichtige pro Jahr, um abschreckungsfähig zu werden.“ Sensburg schlägt vor mit 20.000 pro Jahr zu starten und dieses Kontingent jedes Jahr um jeweils 10.000 zu steigern. Infrastruktur und Ausstattung müssten entsprechend mitwachsen.
Während die praktische Umsetzung des neuen Wehrdienstes die eine Herausforderung ist, bleiben auch politische Hürden. Zwar unterstützt die Union Pistorius‘ Pläne, in dessen eigener Partei sind diese aber durchaus umstritten. SPD-Fraktionschef Matthias Miersch pochte erst kürzlich auf die im Koalitionsvertrag verabredete Freiwilligkeit. „Über eine Wehrpflicht kann man dann gegebenenfalls in der kommenden Legislaturperiode verhandeln, in dieser nicht“, sagte er.
Pistorius hat die Tür zu einem verpflichtenden Wehrdienst aufgestoßen. Ob er durchgelassen wird, entscheidet sich in den nächsten Wochen.