Wie die Orgel eine Kathedrale malt

In der Stadtkirche ist am Sonntag der Internationale Orgelzyklus mit coronabedingter Verzögerung gestartet. Gabriele Marinoni präsentierte in seinem Programm Kompositionen im französischen Stil. Der Italiener erwies sich als wahrer Klangzauberer.

Publikum in der vom Abendlicht illuminierten Stadtkirche. Fotos: E. Klaper

Publikum in der vom Abendlicht illuminierten Stadtkirche. Fotos: E. Klaper

Von Elisabeth Klaper

MURRHARDT. Endlich gibt es wieder hochkarätige Kirchenmusik zu genießen! Faszinierend facettenreiche Orgelwerke „à la manière française“, also in französischer Klangsprache, erleben zahlreiche Zuhörer beim ersten Konzert des Internationalen Orgelzyklus nach der durch die Coronapandemie bedingten Pause.

Zu Gast in der Murrhardter Stadtkirche ist der aus einem norditalienischen Dorf nahe Como stammende Organist Gabriele Marinoni, der seit früher Jugend Klavier- und Orgelunterricht hatte. „Ich wollte Klavierstücke auf der Orgel ausprobieren und habe eine Leidenschaft für beide Instrumente entwickelt“, erzählt er in der kurzen Einführung mit Kantor Gottfried Mayer. Um die Abstandsregeln einhalten zu können, findet sie nicht wie bisher an der Orgel statt. Stattdessen verfolgen die Besucher die Erläuterungen und kurzen Hörbeispiele von ihren Plätzen aus.

Als Marinoni sein Musikstudium am Konservatorium in Como mit dem Bachelor abgeschlossen hatte, kam er 2008 an die Musikhochschule Stuttgart: „Ich interessiere mich besonders für die Romantik, darum wollte ich mich spezialisieren und meine Kenntnisse der deutschen Musik vertiefen.“ Das Programm „habe ich passend für die Mühleisen-Orgel ausgewählt“, erklärt der 1987 geborene Gabriele Marinoni, der nun in Heidelberg lebt. Dabei erweist er sich als wahrer Klangzauberer: Voller Hingabe und Feingefühl für die stimmungsvollsten Klangfarbenkombinationen bringt er das enorm vielfältige Spektrum der Register und Effekte zum Klingen. Höhepunkt ist eine von Marinoni selbst zusammengestellte Sinfonie aus Sätzen, die die bedeutendsten Vertreter der französischen Orgelromantik komponierten. Diese Sätze habe er ausgewählt nach den unterschiedlichen Typen, Stilrichtungen und Charakteristika, um die große Bandbreite der französischen Orgelmusik darzustellen, verdeutlicht der Künstler.

In festlicher Pracht und rhythmischer Bewegung bringt er Charles-Marie Widors Allegro vivace aus dessen 5. Sinfonie Opus 42/1 zur Entfaltung. Fein arbeitet Marinoni die Kontraste zwischen ernsten, schweren Akkorden sowie heiteren, leichten Läufen und Figuren heraus. Mit César Francks Andantino aus dessen „Museum des Organisten“ Band 4 nimmt er die Zuhörer auf eine kleine Entdeckungsreise durch die Geschichte der französischen Orgelmusik mit, wobei er ein grandioses Panorama ganz verschiedenartiger Klangnuancen hörbar macht.

Wie eine Ballade wirkt Alexandre Guilmants Scherzo aus der 2. Sinfonie Opus 91. Darin scheint er Erlebnisse und Situationen in einer ans Wandern erinnernden Rhythmik mit sich wiederholenden Motiven zu erzählen. Ein besonderer Hörgenuss ist Louis Viernes Adagio aus der 3. Sinfonie Opus 28 in spätromantisch-impressionistischer Klangsprache. Mal verträumt, mal schwungvoll jubelt die Orgel in walzerartigem Rhythmus und ausgeklügelter Dynamik. Diese reicht von ganz leisen, ätherisch zarten Tönen bis zum machtvollen Tutti, welches das ganze Kirchenschiff erfüllt.

Kein Ohrenschmeichler ist hingegen Maurice Duruflés Toccata aus der Suite Opus 5 im neoklassischen Stil, die mit Ganztonleitern das Bild einer gotischen Kathedrale malt. Die monumentalen Akkordkaskaden illustrieren die himmelwärts strebende Architektur. Die schnell wirbelnden, sich teils auch aufbäumenden Läufe und Figurationen beschreiben die vielen Zierelemente. Die teils scharf dissonanten Klänge symbolisieren die Bestien, die als Wasserspeier das Böse abwehren sollen. Und die erst gegen Ende klarer hörbaren Harmonien stehen für die farbigen Glasfenster.

Spätromantische und impressionistische Stilmerkmale vereinen sich zu einem wunderschönen Klangbild in Marco Enrico Bossis „Gespräch mit den Schwalben“ aus den „Drei franziskanischen Augenblicken“ Opus 140/2. Dieses Spätwerk des bekanntesten italienischen Romantikers ist inspiriert von der Legende des Heiligen Franz von Assisi, der mit den Tieren gesprochen haben soll. Fantasievoll und verspielt mit einer Vielzahl diverser Klangnuancen und -effekte gestaltet Gabriele Marinoni den Dialog zwischen den Schwalben und Franziskus. Während Blasinstrumente-Register die Vogelstimmen imitieren, symbolisieren sphärische, erhaben schwebende Harmonien die Stimme des Heiligen. Am Anfang des Konzerts präsentiert der Musiker die delikate „Suite des zweiten Tons“ des französischen Barock-Komponisten Louis-Nicolas Clérambault, einem Zeitgenossen von Johann Sebastian Bach. Die harmonisch und rhythmisch kunst-, kontrast- und abwechslungsreich ausgearbeitete Suite ist gleichsam ein Gesamtkunstwerk französischer Barockmusik. In fünf Sätzen entfaltet Gabriele Marinoni einen prächtigen, vielschichtigen Melodienreigen.

Dieser umfasst filigrane Koloraturen, verspielt kontrastiert mit Krummhornklängen, die an große Holzblasinstrumente erinnern, feine meditative Flötenstimmen, ätherisch zarte Oberstimmen in tänzerischer Rhythmik, pompöse Trompeten-Zungenregister und prachtvolle Tuttipassagen. Mit starkem, lang anhaltendem Applaus dankt das Publikum dem jungen Organisten für seine überaus inspirierten, zugleich sensiblen und virtuosen Interpretationen.

Vor, während und nach dem Konzert gilt es für die Besucher, die Hygiene- und Abstandsregeln einzuhalten, worauf Mitglieder eines Teams der evangelischen Kirchengemeinde sie hinweisen. Das bedeutet, die Gesichtsmasken zu tragen, solange man sich in der Kirche bewegt, erst am Platz dürfen sie abgenommen werden. Und bei der Platzwahl heißt es zu beachten, sich nur dort hinzusetzen, wo Programmblätter ausliegen.

Laut Kantor Gottfried Mayer wird der Internationale Orgelzyklus nun wie geplant fortgesetzt. Allerdings können die beiden ersten, ausgefallenen Konzerte nicht nachgeholt werden sowie keine Chor- und Orchesterkonzerte stattfinden.

Gabriele Marinoni, der in Como und Stuttgart studierte, hat sein Programm speziell auf die Mühleisen-Orgel abgestimmt.

Gabriele Marinoni, der in Como und Stuttgart studierte, hat sein Programm speziell auf die Mühleisen-Orgel abgestimmt.

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Erstellt:
23. Juni 2020, 06:00 Uhr

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