Zeitloser, erarbeiteter und bewohnter Zerfall

Das Schweizer Künstlerduo Annette Stöcker und Christian Selig hat sich damit befasst, was geschieht, wenn Äpfel nach der Ernte allmählich den Weg alles Irdischen gehen. In der Ausstellung „timeless“ am Murrhardter Wolkenhof spielt es mit genauer Beobachtung, Distanz und Bildebenen.

Christian Selig vor den großen Fotografien der alternden Äpfel. Wer nicht genau hinsieht, weil er nur das Schöne und Angenehme sucht, dem entgeht allerdings auch viel Bedeutsames, sagt der Schweizer Künstler. Foto: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

Christian Selig vor den großen Fotografien der alternden Äpfel. Wer nicht genau hinsieht, weil er nur das Schöne und Angenehme sucht, dem entgeht allerdings auch viel Bedeutsames, sagt der Schweizer Künstler. Foto: J. Fiedler

Von Petra Neumann

Murrhardt. Sie zeigt ein wahrhaftig passendes Thema für den Herbst, die neue Ausstellung „timeless“, die im Kunstfenster am Wolkenhof präsentiert wird. Geschaffen haben die Werke die beiden Schweizer Künstler Annette Stöcker und Christian Selig, die zusammen unter dem Namen „stöckerselig“ firmieren. Was oberflächlich wie Dokumente eines Verfallsprozesses wirkt, hat unterschwellig viele Ebenen.

Die beiden Kunstschaffenden helfen in jedem Herbst einem Freund bei der Ernte alter Apfelsorten, die durchaus noch eigenwillige Individuen produzieren können. Das Erntehelferduo nimmt die auffallendsten Exemplare mit und dokumentiert ihre naturbedingten Veränderungen in einem längeren Zeitraum fotografisch. Durch die Aufnahmen werden sie dem biologischen Zeitfluss entrissen und in eine künstliche Zeitlosigkeit versetzt. „Wir haben den Verfallsprozess verfolgt. Es ist ungemein spannend, etwas Alltägliches im Zeitverlauf zu betrachten und für den Kunstliebhaber zugänglich zu machen. Uns treibt Forschergeist, Neugierde und Wissbegierde an, und diese Thematik des Vergehens gehört dazu“, betont Christian Selig. Die durch den Schrumpfungsvorgang entstandenen Falten und Runzeln, welche die Schale der Äpfel verändern, erfahren dabei durch eine unterschiedliche Rasterung der Fotografien eine Entfremdung. Biologie und Kunst kommen so zusammen.

Das ist eine Ebene. Die andere drückt sich im Raumgefüge aus. Während der Hauptprotagonist im Vordergrund während des Dokumentationsverlaufs gleich einer Erdkugel gedreht wird, bleibt der Hintergrund in ungefähr gleich. Bewegung und Erstarrung ergeben ein dynamisches, plastisches Wechselspiel, wie auch das Spannungsverhältnis der Bildebenen. „Mir gefällt die Vorstellung, dass sich im Betrachter verschiedene Bewusstseinsfelder befinden, die sich beim Ansehen öffnen können“, erläutert die Kuratorin Birgit Krueger. „Es stellt sich ihm die Frage, wie erkenne ich etwas, was nicht wirklich da ist.“ Das ist auch ein Grundprinzip des künstlerischen Ansatzes von Annette Stöcker und Christian Selig, deren Motto lautet: Kunst ist Arbeit. Was das bedeutet, erklärt Christian Selig so: „Der Künstler gibt einen Anstoß, da er sich selbst auf die noch nicht geschaffenen Bilder einlassen muss, bevor er kreativ werden kann. Dieses Prinzip ermöglicht es auch dem Kunstfreund, sich an das Werk heranzutasten und über diesen Prozess sich selbst neu zu entdecken.“ Eine weitere Ebene ist die Transformation. „Wir sind ständig einem Wandel unterworfen. Jedoch sucht sich der menschliche Verstand nur das ihm Angenehme und Schöne als wertvolles Betrachtungsmoment aus, weswegen ihm vieles Bedeutsame entgeht. Genau das wollen wir wieder in den Bewusstseinsfokus rücken“, unterstreicht Christian Selig. Überhaupt engagiert sich das Künstlerpaar sehr für aktuelle umweltpolitische und gesellschaftliche Themen, um einen Austausch innerhalb der menschlichen Gemeinschaft zu ermöglichen.

Eine vierte Ebene ist die Betrachtung der Fotografien von der Warte des Bildobjekts aus. Was geht in einem Apfel vor, während er vergeht und gleichzeitig Nahrung für andere Lebewesen ist? Nicht nur der Schrumpfungsprozess verändert ihn, er ist auch nicht mehr allein. Schimmelpilzsporen schaffen faszinierend vitale Landschaften in das biologische Weltenrund. Neues ursprüngliches Leben entsteht im Verfall, im Vergehen, und dieses Eingehen in einen neuen schöpferischen Prozess ist ein sehr schönes Gedankenspiel für die jetzige Jahreszeit.

Es lohnt sich also, einen Blick durch das Kunstfenster, Wolkenhof 14, zu werfen. Die Ausstellung ist noch bis zum Donnerstag, 2. Dezember, ganztägig zu sehen.

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Erstellt:
13. Oktober 2021, 06:00 Uhr

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