Zerfledderte Bücher, alte Schiefertafeln

Vor 75 Jahren: Erinnerungen an die Nachkriegszeit in Murrhardt (10) Nach 1945 erfolgte der Schulunterricht in riesigen Klassen und mithilfe von Hilfslehrkräften. Arbeitsmaterial war Mangelware und die Schulbücher stammten noch aus der NS-Zeit.

Das Grabenschulhaus, als es noch Schulhaus war. Nach dem Krieg wurden dort sehr viele Kinder unterrichtet. Foto: MZ-Archiv/Digitalisierung A. Kozlik

Das Grabenschulhaus, als es noch Schulhaus war. Nach dem Krieg wurden dort sehr viele Kinder unterrichtet. Foto: MZ-Archiv/Digitalisierung A. Kozlik

Von Elisabeth Klaper

MURRHARDT. Als nach dem Kriegsende am 1. Oktober 1945 wieder der Schulunterricht in der Walterichstadt begann, gab es eine riesige Zahl von Schülern, aber viel zu wenige reguläre und fachlich ausgebildete Lehrkräfte, zudem herrschte akuter Mangel an Schulbüchern und Schreibmaterial. Der Unterricht selbst stand nun ganz im Zeichen der Umerziehung zur Demokratie unter der Regie der US-Militärregierung. Lehrkräfte, Schulbücher und andere Lehrmaterialien durften nur mit besonderer Genehmigung eingesetzt werden.

Ein Großteil der in der NS-Zeit tätigen Lehrer durfte nun nicht mehr unterrichten und musste erst Entnazifizierungsverfahren durchlaufen, darum stellte man viele Hilfslehrer ein, darunter auch zahlreiche Ehefrauen von Lehrern. Oberstes Ziel der Alliierten war es, das deutsche Schulwesen vom menschenverachtenden nationalsozialistischen Ungeist zu befreien. Dazu brauchte man auch neue, unbelastete Pädagogen. Mit verkürzten Lehrerausbildungen versuchte man dieser Anforderung zu begegnen. Anfangs schwärzte man in den vorhandenen Schulbüchern aus der NS-Zeit allerdings einfach nur NS-Symbole und das NS-Gedankengut mit Tinte.

Kinder sollten nun nicht mehr zu gehorsamen Erwachsenen erzogen werden, sondern wieder Kind sein dürfen, auch besann man sich auf die menschlichen Grundwerte. Im Werkunterricht standen kindgerechte Spielsachen auf dem Stundenplan, und die Schüler konnten basteln. Unbelastete Schulbücher aus der Zeit vor der NS-Diktatur druckte man als Notausgaben nach und verwendete sie im Unterricht. In der „Murrhardter Chronik 1945/46“ berichtet Eugen Gürr, der selbst Lehrer war, dass am 17. August alle Volksschüler jedes Lernbuch vom Lesebuch bis zum Atlas, ob geliehen oder eigen, im Klosterschulhaus abzugeben hatten, die Oberschüler eine Woche später. Am 28. September fand eine Versammlung zugelassener Lehrkräfte in Backnang statt, Schulanfang war am 1. Oktober mit Gottesdienst. Anfangs gab es nur vier Lehrkräfte, die rund 700 Schüler fünf Tage die Woche unterrichten mussten, von den Murrhardter Lehrern war nur eine Frau zugelassen. Zeitzeugin Marianne Schurr erzählt, dass sie „aus alten, zum Teil schon stark beschädigten Schulbüchern“ gelernt habe. „Darunter waren auch einige mit nun verbotenen NS-Inhalten, die bereits seit etlichen Jahren im Gebrauch waren. Aber es ging nicht anders, denn es dauerte einige Zeit, bis neue Schulbücher hergestellt und verteilt werden konnten. Der Unterricht war schwierig, und wir lernten in der ersten Nachkriegszeit auch nicht so viel, denn die Lehrer waren Hilfskräfte, dazu waren die Klassen sehr groß wegen den Flüchtlingskindern.“

Zeitzeugin Annemarie Meindl erinnert sich, dass die Schülerzahl wegen der Flüchtlingskinder, aber auch durch die Mädchen und Jungen der Evakuierten aus den durch den Bombenkrieg weitgehend zerstörten Großstädten sehr groß war und folglich ein Mangel an Schulräumen herrschte. „Im heutigen Amtshaus Klosterhof war die evangelische Volksschule mit sechs Klassenräumen, je zwei auf drei Stockwerken. (...) Im ersten Stock war in der Mitte ein Raum mit Unterrichtsmaterial, wie große Landkarten zum Aufhängen, Tierpräparate als Anschauungsmaterial sowie zerfledderte Unterrichtsbücher ohne Buchdeckel. Wir hatten in verschiedenen Gebäuden Unterricht, die als Ausweichquartiere dienten. Dazu gehörte das Grabenschulhaus, dort war die vierklassige Oberschule untergebracht, es hatte zwei Treppenhäuser, dadurch waren Ober- und Volksschüler getrennt. Unterricht fand auch in zwei Räumen der Gewerbeschule im ersten Stock der Stadthalle statt, Handarbeitsunterricht in einem per Holzverschlag abgeteilten Zimmer im Erdgeschoss, überdies in der Neuapostolischen Kirche. Für die Gewerbeschule baute man eine Baracke, wo heute das Jugendzentrum steht. Wegen des Mangels an Schulräumen baute man östlich vom Sportplatz ein Notschulhaus, eine zweistöckige Holzbaracke mit je zwei Räumen im Erd- und Obergeschoss, und vor der Stadthalle stand die alte Turnhalle.“

Niemand hatte Geld für Schreibmaterial und die Tintenfässer waren leer.

Laut Meindl lief der Unterricht unter sehr schwierigen Bedingungen ab: „Wir mussten Hochdeutsch sprechen, niemand hatte Geld für Schreibmaterial.“ Deshalb schrieben und rechneten die Mädchen und Jungen auf ihren alten Schiefertafeln. „Eine Lehrerin löste einen Proteststurm aus, weil sie verlangte, dass die Schüler ab der 2. Klasse mit Füller und in Hefte schreiben sollten. Dabei gab es wegen des großen Papiermangels kaum Hefte, und die Tintenfässer in den Schultischen waren leer.“ So schrieben die Schüler mit Bleistiften, Kugelschreiber gab es damals noch nicht.

„Wir benutzten ganz alte, zerfledderte Schulbücher, oft ohne Deckel oder Einband. Die meisten davon waren noch aus der NS-Zeit, doch entfernte man daraus die Elemente der NS-Ideologie, so gut es eben ging. Manche Seiten wurden ganz herausgerissen, ansonsten verbotene Worte, Sätze und Abbildungen geschwärzt. Lehrerinnen durften bis in die 1950er-Jahre nicht heiraten, erst als es wegen der Entnazifizierung zu einem akuten Lehrermangel kam, wurden auch verheiratete Frauen als Lehrerinnen angestellt, darunter auch evakuierte Ehefrauen von Lehrern. Als Ersatz- und Hilfslehrer stellte man viele Flüchtlinge an, Kriegerwitwen und ehemalige Kriegsteilnehmer. Ein Beispiel war der Soldat, spätere Lehrer, stellvertretende Leiter der Walterichschule und Volkshochschulleiter Wilhelm Seibold, der wegen des Kriegs sein Studium noch nicht abgeschlossen hatte“, erinnert sich Annemarie Meindl.

Zeitzeugin Gisela Franke ging in Steinberg in eine Einklassenschule mit Schülern von der 1. bis zur 7. oder 8. Stufe. Den Unterricht hielt die Frau eines Lehrers, die vorübergehend dessen Lehrauftrag wahrnahm, da dieser zuerst sein Entnazifizierungsverfahren abschließen musste.

„Sie war sehr sozial engagiert und darauf bedacht, dass die einheimischen Schüler Verständnis bekamen für die schwierige Situation der Flüchtlingskinder. Sie und ihr Mann haben den Unterricht sehr geschickt organisiert, damit die Älteren sich um die Jüngeren kümmerten und diesen auch bei den Aufgaben halfen. Dadurch wurde das Sozialverhalten stark gefördert.“

Zeitzeuge Helmut Klink berichtet, dass er die 4. Klasse wiederholen musste. „Unsere Klasse mit 72 Schülern war im Untergeschoss der Neuapostolischen Kirche untergebracht. Oft standen wir im Treppenhaus vor dem Klassenzimmer, weil der Kanonenofen wegen zu geringem Abzug so stark rauchte. So hatten wir im Winter öfter vor dem Klassenzimmer Unterricht. Das Klassenzimmer war viel zu klein für eine so große Zahl von Schülern. Wir sammelten Altpapier und tauschten es in einer Backnanger Buchhandlung gegen Schulhefte ein. Jedes war kostbar!“

Als er einmal eine Schreibstrafarbeit bekam, sagte seine Mutter: „Das schreibst du nicht in dieses Heft. Auf meine Frage, wohin ich es sonst schreiben sollte, sagte sie: Ich schneide von der Zeitung die Ränder ab, darauf schreibst du die Strafarbeit. Der Lehrer kontrollierte, ich öffnete mein Federmäppchen, in dem die Zeitungsränder gefaltet waren. Ich holte sie heraus, und das schien auf den Lehrer Eindruck zu machen, denn von da ab bekamen wir keine Schreibstrafarbeit mehr. In der Schule gab es große Unterschiede, da waren die Katholiken die ,Kreuzköpfler‘ (Unbeliebte, Außenseiter), sie wurden gemobbt, und es gab viele Streitigkeiten zwischen den Kindern von Alt- und Neubürgern.“ Doch nach einiger Zeit seien sie besser miteinander ausgekommen, auch entwickelten sich Freundschaften, erinnert sich Helmut Klink.

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Erstellt:
19. September 2020, 06:00 Uhr

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