Zu kaufen gab es weder Kleider noch Schuhe
Serie „Vor 75 Jahren: Erinnerungen an das Notjahr 1947 in Murrhardt“ Zeitzeugen erzählen, wie die Einwohner in der Walterichstadt und den Teilorten mit den vielen Schwierigkeiten im Alltag klarkamen.

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Im oberen Stockwerk der ehemaligen Gaststätte „Linde“ (aufgenommen 1929) war eine Textilreparaturwerkstatt. Foto: Stadtarchiv
Von Elisabeth Klaper
Murrhardt. 1947 bekam man noch fast alles nur gegen Karten: Artikel des täglichen Bedarfs, aber auch neue Bekleidung und Schuhe gab es praktisch nirgends zu kaufen, erzählt Zeitzeugin Gertrud Gehring. Darum „änderte man alles um, so auch ein schönes Kleid meiner Mutter für mich, das habe ich liebend gerne angezogen“. Und wegen des Lebensmittelmangels „haben wir so weit wie möglich alles selbst angebaut und eingemacht“. Die Ernte erfolgte noch von Hand und als die Felder abgeerntet waren, mussten die Kinder übrig gebliebene Kartoffeln und Ähren aufsammeln.
Damals „haben wir selbst Hühner gehalten und mussten auf den Äckern und Wiesen bei der Ernte helfen. Meine Mutter versuchte irgendwo für die Feldarbeit geeignete Schuhe zu bekommen, aber das klappte nicht, denn die Geschäftsleute verkauften nichts.“ Überhaupt war die gesamte Versorgungssituation sehr schwierig, alles war äußerst knapp. „Was man auf Lebensmittelkarten bekam, reichte hinten und vorne nicht, darum kamen viele Stadtbewohner aufs Land, um bei den Bauern zu hamstern. Manche gaben ihnen etwas ab, andere aber nicht, stattdessen schimpften sie über die Hamsterer“, berichtet Gehring.
Rolf Schweizer erzählt: „Damals fuhr ich mit dem Zug nach Backnang in die Oberschule. Nur morgens und abends fuhren Züge, deshalb waren sie völlig überfüllt und mit weiteren Personen auf den Dächern und Trittbrettern belegt.“ Viele Reisende hatten auch noch eine Menge Gepäck bei sich und fuhren aufs Land, um ihr restliches Hab und Gut gegen Lebensmittel einzutauschen. Tauschhandel war damals die einzige Möglichkeit, täglich allerlei dringend benötigte Bedarfsartikel zu bekommen, von Lebensmitteln bis zu Baumaterial.
Manche Bauern nutzten die Not der Stadtbewohner aus, die sogar Wertgegenstände und Schmuck gegen Lebensmittel verkauften. „Die gesamte Tauschwirtschaft basierte praktisch auf Betrug: Alles kaufte oder verkaufte man zu völlig überhöhten Preisen“, der eigentliche Wert einer Ware habe sich nur danach bemessen, ob man dafür Lebensmittel bekam. Laut Schweizer gab es auch in der Walterichstadt einen schwunghaften Tausch- und Schwarzhandel mit allen möglichen Waren. Einige jugendliche Murrhardter, die man noch kurz vor Kriegsende für verschiedene militärische (Hilfs-)Dienste einzog, „lernten beim Militär, wie man überlebt“, und als sie zurückkamen, „waren sie im Schwarzhandel in der gesamten Region aktiv“.
Für den Schwarzhandel gab es diverse Umschlagplätze
Sie handelten mit heiß begehrten Genussmitteln wie amerikanischen Zigaretten, Süßwaren oder Delikatessen, Luxusartikeln wie Damenstrümpfen und -unterwäsche, aber auch Pelzen, technischen und Industriegütern, Rohstoffen wie Kohle, Eisen und anderem. Großen Ärger verursachten einige „Männer, die keiner geregelten Beschäftigung nachgehen“ und trotzdem Lebensmittelkarten bekamen, was an einen Arbeitsnachweis gebunden war. Man vermutete, „dass diese Personen Schwarzhandel treiben“, darum forderte der Gemeinderat eine schärfere Kontrolle durchs Arbeitsamt. Für den Schwarzhandel gab es verschiedene Umschlagplätze: Lebensmittel auf den Bauernhöfen, in den Metzgereien und Gasthäusern, wertvolle Artikel und spezielle Güter wie Industrieprodukte in der „Sonne-Post“. Einfachere und kleinere Dinge tauschte man auf dem Wochenmarkt oder unter den Ladentischen diverser Geschäfte, hat Christian Schweizer recherchiert.
„Ein großes Problem war die Versorgung von Kranken wegen der mangelhaften Hygiene. Meine Großmutter hatte sich den Arm gebrochen und musste nach Backnang ins Krankenhaus. Zwar heilte der Arm, aber sie kam kränker wieder nach Hause, denn sie bekam Krätze als Folge der unsauberen Betten. Denn damals gab es kein geeignetes Wasch- und Desinfektionsmittel, um die Wäsche keimfrei zu machen“, erinnert sich Rolf Schweizer. In den beiden „Hungerwintern“ 1946/47 und 1947/48 halfen zwar die West-Besatzungsmächte, vor allem die USA, mit Lebensmittellieferungen. Aber: „Die meisten Leute konnten die englischen Beschriftungen der Dosen oder Packungen nicht lesen. So gab es in der Küche einer Gaststätte Konserven mit ,Fleischnahrung‘, die die Gäste mit Heißhunger aßen, bis ein US-Offizier ihnen erklärte, dass es sich um Hundefutter handelte!“ Weil Benzin streng rationiert und nur für besonders dringende Fahrten zu bekommen war, transportierte man Güter aller Art mit Lastwagen oder Autos mit Holzvergasern. Ehemalige „Parteigenossen“, sprich Mitglieder der NSDAP, und Berufssoldaten, unter denen indes auch Kommunisten waren, mussten zur Strafe gemeinnützige Arbeitseinsätze leisten. Sie halfen bei der Holzernte im Wald sowie mit Spaten und Schaufeln beim Aushub des Freibads.
Trotz aller Probleme fanden die Kinder Möglichkeiten zu Spiel und Spaß: „Wir waren in den Nachkriegsjahren sehr kreativ und nutzten diverse Geräte und Gebrauchsgegenstände zum Spielen, wie Schubkarren oder Handwagen“, erinnert sich Annemarie Meindl. Sie spielten im Klosterhof und Stadtgarten, da es noch keine öffentlichen Spielplätze gab. „Am Einlauf zum Feuersee war eine sandige Stelle, dort wateten wir schon im zeitigen Frühjahr barfuß, und in der hinteren Ecke gab es eine große Sandkiste.“ Den Rasen durfte man nicht betreten und wenn der „Kuckuck“ genannte damalige Stadtgärtner unterwegs war, rannten die Kinder davon.
Textilreparaturen durch Kunststopferinnen waren gängige Praxis
Im Winter fuhren sie mit Schlitten vom Verbindungsweg zum Friedhof aus die Steilstrecken hinunter. Annemarie Meindls Vater war Schneider, er fertigte sogenannte Überfallhosen mit einem Leibchen und Trägern aus restlichen Uniformstoffen, Wolltrikots und US-Militärdecken. Sie waren ideal zum Schlitten- oder Skifahren, weil die Stoffe sich nicht so rasch mit Schneewasser vollsogen. Schlittschuh fuhren die Kinder, sobald das Eis auf dem Feuersee etwa sieben Zentimeter dick war, und die Gaststätten holten für die Bierkeller Eis. Dazu sägten Männer das Eis in große Stücke oder Stangen, die sie auf von großen Pferden gezogenen Leiterwagen zu den Eiskellern transportierten. 1947 bekam Annemarie Meindl die ersten Paar Ski als „Lohn“ für Bekleidung, die ihr Vater für ein Sportgeschäft in Cannstatt angefertigt hatte. Ein Bekannter brachte ihr auf einer Streuobstwiese am Riesberg das Skifahren bei.
Im ersten Stock der ehemaligen Gaststätte „Linde“ war eine Textilreparaturwerkstatt, für die in Handarbeiten geschickte Frauen arbeiteten. Sie übten den neuen, spezialisierten Beruf der Kunststopferin aus, die Beschädigungen in Kleidungsstücken behoben. Es entwickelte sich in der Nachkriegszeit, als grobe Wollstoffe mit Karo- und Pepitamuster modern waren. Bei feinen Stoffen mit glatter oder glänzender Oberfläche stießen sie indes an Grenzen, da diese in Handarbeit kaum nachzuarbeiten waren. „Um beschädigte Kleidungsstücke zu reparieren, benötigte man Stoffreste und Fäden, möglichst aus eingeschlagenen Säumen oder ähnlichen Stellen. Eine Frau beherrschte diese schwierige Arbeit so gut, dass man es praktisch nicht mehr sah. Damals konnte man nur ein- oder zweimal pro Jahr auf Karten neue Stoffe oder Kleider erwerben, doch die Stoffe waren nicht stabil genug und ungeeignet, um Anzüge oder Kostüme zu schneidern. Deshalb war es so wichtig, dass man die vorhandenen Kleidungsstücke professionell und qualitativ hochwertig ausbesserte.“ Zudem ließen Frauen ihre Strümpfe in Textilgeschäften ausbessern, eine spezialisierte Arbeit. Die Aufmascherinnen behoben Laufmaschen mit Mininadeln und einer besonderen Technik, wofür großes Fingerspitzengefühl und gute Augen erforderlich waren, erklärt Annemarie Meindl.