Zwischen Altlasten und Neuanfang

Christian Schweizer hat die Identität aller Landrätekonferenz-Teilnehmer recherchiert. Jeder hatte seine Vergangenheit, ob als Opfer, Mitläufer oder Unterstützer des NS-Regimes. Der zweite Beitrag zeichnet ein Bild, wer damals in der Sonne-Post zusammenkam.

Eine Aufnahme von der Landrätekonferenz am 20. Juni 1945 gibt es nicht. Aber viele Jahre später, 1970, kamen Teilnehmer des damaligen Treffens noch einmal in Murrhardt und der Sonne-Post zusammen. Am Gebäude ist bereits eine Tafel über die Konferenz (oben rechts) angebracht, die auch heute noch am wiederaufgebauten Haus zu finden ist. Foto: Carl-Schweizer-Museum

© Carl-Schweizer-Museum Murrhardt

Eine Aufnahme von der Landrätekonferenz am 20. Juni 1945 gibt es nicht. Aber viele Jahre später, 1970, kamen Teilnehmer des damaligen Treffens noch einmal in Murrhardt und der Sonne-Post zusammen. Am Gebäude ist bereits eine Tafel über die Konferenz (oben rechts) angebracht, die auch heute noch am wiederaufgebauten Haus zu finden ist. Foto: Carl-Schweizer-Museum

Von Elisabeth Klaper

MURRHARDT. Die Landrätekonferenz in der Walterichstadt am 20. Juni 1945 war epochaler Wendepunkt der württembergischen Heimatgeschichte und legte den Grundstein für die Entwicklung eines freiheitlich und demokratisch geordneten Staatswesens. „Sie bewirkte auch den ersten, entscheidenden Schritt in der internationalen Politik, denn sie stellte das Vertrauen zwischen Amerikanern und Deutschen her“, betont Heimatgeschichtsforscher Christian Schweizer, Leiter des Carl-Schweizer-Museums.

Dank umfangreicher Recherchen ist es ihm gelungen, die Identität aller Personen zu klären, die bei der Konferenz mitwirkten. „Darunter waren sowohl Opfer und Verfolgte als auch Mitläufer oder gar kurzzeitige Unterstützer des NSRegimes.“ Laut Schweizer kannten die meisten sich auch untereinander – oftmals durch den gemeinsamen Arbeitskontext. Dank ihrer Fachqualifikationen hatten sie während der Weimarer Zeit bedeutende Positionen in der württembergischen Innen- und Ministerialverwaltung inne. Während der NS-Zeit waren sie mehr oder weniger mit dem System in Konflikt geraten.

Die demokratische Form und Geisteshaltung der Beratungen während der Landrätekonferenz beeindruckten den gebildeten, weltkundigen und verständnisvollen US-Beobachter Captain Alfred Mitchell Bingham, Leiter der Abteilung Arbeit der Regionalmilitärregierung Württemberg-Baden. Er sagte: „Bei Ihnen geht es gerade so demokratisch zu wie bei uns im Staat Connecticut.“ Dies überzeugte ihn davon, dass es im Schwabenland Persönlichkeiten gab, die während der NS-Diktatur nicht zu Handlangern des Gewaltregimes geworden waren. Bingham schrieb zur Landrätekonferenz einen ausführlichen Bericht für seinen Vorgesetzten, Oberst William Dawson, durch den sich die positiven Eindrücke auf diesen übertrugen.

Daraufhin bestellte der Direktor der US-Militärregierung am 23. Juni, also drei Tage später, Reinhold Maier und Konrad Wittwer zu sich, um mit ihnen auf vertraulicher Grundlage aktuelle Fragen zu besprechen. Dabei bezeichnete Dawson die Murrhardter Tagung als „first sprouting of democracy“, also als „erstes Sprießen der Demokratie“, dem er zur Entfaltung helfen wollte. Insofern überzeugte die Landrätekonferenz die Amerikaner, dank der das Land eine gewisse demokratische Glaubwürdigkeit der Militärregierung gewann. „Deren Vertrauen übertrug sich bald auch auf Reinhold Maiers Freund Theodor Heuss, den späteren ersten Bundespräsidenten, und den Widerstandskämpfer, Theologen und späteren Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier“, betont Schweizer. Dies beschleunigte den inneren Wiederaufbau und erleichterte der Bevölkerung vieles. So gelang es in einjähriger Arbeit, Schritt für Schritt ein neues Staatswesen aufzubauen.

„Alfred Bingham, der als junger Staatsrechtler und Offizier der US Army den Entwicklungsprozess der westdeutschen Demokratie im Auftrag der US-Militärregierung begleitete, war einer der renommiertesten Juristen der USA. Dies wurde bislang in Deutschland übersehen oder war uns nicht bewusst“, verdeutlicht Christian Schweizer. Bingham entstammte einer namhaften Familie mit großem politischen Einfluss und Ämtern, sein Vater war Hiram Bingham, Gouverneur von Connecticut und Archäologe, der die Inkafestung Machu Picchu in Peru vom Dschungelbewuchs befreit und für den Tourismus erschlossen hatte.

Bei seinen Recherchen zur Landrätekonferenz stieß Schweizer auf zwei bisher kaum bekannte Mitarbeiter im Kreis Backnang aus der Walterichstadt, die früher im württembergischen Innenministerium tätig waren: Friedrich Kiefer und Otto Wilderer. Friedrich Kiefer kam aus einer Murrhardter Holz- und Fuhrunternehmerfamilie, er war Jurist und Fachmann für den Neuaufbau eines Rechtsstaats. 1931 ernannte Staatspräsident Eugen Bolz ihn zum Kanzleidirektor. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten übernahm Oberregierungsrat Gustav Himmel seine Stelle. Von 1940 bis 1944 war Kiefer Präsident der Stuttgarter Gebäudebrandversicherungsanstalt. Während des Wiederaufbaus hatte er von 1947 bis 1949 das Amt des Ministerialdirektors im Landesinnenministerium inne, Anfang 1950 ging er in Pension.

Die Rolle Otto Wilderers am Ende des Zweiten Weltkriegs ist zwielichtig, einiges ist noch unklar.

Otto Wilderer kam mit der Verlagerung des Innenministeriums nach Murrhardt und habe in den letzten Kriegstagen noch eine etwas zwielichtige Rolle gespielt. Laut Christian Schweizer soll er einigen NS-Größen geholfen haben, unterzutauchen, indem er wahrscheinlich deren Personalakten verschwinden ließ. Möglicherweise leistete er auch noch andere Hilfsdienste, Genaueres sei aber noch nicht erforscht. Wilderer war leitender Regierungsdirektor und Berichterstatter für Personalsachen in der Kanzleidirektion des württembergischen Innenministeriums. Insofern verfügte er über wichtige, intime Personalkenntnisse der Innenverwaltung und war nach Kriegsende unentbehrlich für den Wiederaufbau der Innenverwaltung des Landes. Obwohl 1945 wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft entlassen, kam Wilderer im Zuge des Wiederaufbaus der Landesverwaltung über die Verwaltungsgerichtsbarkeit zurück und avancierte 1952 zum Leiter der Kanzleidirektion im Stuttgarter Regierungspräsidium.

Unter den Mitwirkenden der Landrätekonferenz waren auch etliche politische Quereinsteiger, Vertreter der Wirtschaft oder Freiberufler, die die US-Besatzungsmacht mit Ämtern auf Kommunal- und Kreisebene betraut hatte. So Reinhold Maiers Freund, der Stuttgarter Buchhändler Konrad A. Wittwer. Er galt in der NS-Zeit als „jüdischer Mischling“, weshalb er etlichen Repressionen ausgesetzt war. Nur dank der Unterstützung von Hugo Bühler, Abwehrchef der Firma Robert Bosch GmbH, überlebte Wittwer. Die beiden waren befreundet und Bühler war Mitglied in einer Widerstandsgruppe, die der ehemalige Stuttgarter Polizeidirektor Paul Hahn leitete. Es gelang Bühler, zahlreiche gefährdete Personen zu retten, indem er sie als Arbeiter in einem sogenannten Sicht- und Zerlegebetrieb für Autoersatzteile im Bosch-Lichtwerk in Feuerbach beschäftigte. Der Betrieb bestand bis zum Kriegsende. In der Nachkriegszeit arbeitete Wittwer als Assistent des Gmünder Landrats. Später berief ihn Ministerpräsident Reinhold Maier als Staatsrat in die Staatskanzlei, bevor er 1951 in den Buchhandel zurückkehrte.

Buchhändler Konrad A. Wittwer überlebte, weil ein Freund ihn in einem Bosch-Werk unterbrachte.

Der Heilbronner Oberbürgermeister und Landrat Architekt Emil Beutinger war engagierter Demokrat und leidenschaftlicher Gegner der Nationalsozialisten, die ihn 1933 seines Amts enthoben. Während der NS-Zeit litt er unter üblen Schikanen, er bekam noch nach Kriegsende Morddrohungen und benötigte eine Schutzeskorte von US-Soldaten. Bis Oktober 1945 behielt Beutinger seine Ämter, trat nach der ersten Kommunalwahl 1946 vom OB-Amt zurück, blieb aber Stadtrat.

Der Backnanger Bürgermeister und Landrat Albert Rienhardt war Opportunist und NS-Mitläufer. Als Kommunalfachmann verfasste er einige Fachbücher. Anfangs politisch liberal, driftete er bereits in der Weimarer Zeit immer weiter nach rechts und wurde im Juli 1933 Bürgermeister auf Lebenszeit. Nach Kriegsende war er kurz kommissarischer Landrat, und 1952 ernannte man ihn zum Ehrenbürger Backnangs.

Unter den Konferierenden waren auch zwei Vertreter des Adels. Die wohl schillerndste Persönlichkeit war der kurzzeitige Crailsheimer Landrat Gottfried Prinz zu Hohenlohe-Langenburg. Der Urenkel der britischen Königin Victoria war verheiratet mit Prinzessin Margarita von Griechenland, Schwester des Prinzgemahls Philip der britischen Königin Elizabeth II. Aalener Landrat war Freiherr Max von Lütgendorff-Leinburg, der zuvor unter anderem von 1936 bis 1938 österreichischer Honorarkonsul in Aussig war und seit 1939 im Dienst der württembergischen Innenverwaltung stand.

Als Öhringer Landrat nahm der Jurist Gottlob Fritz Eppinger teil, ein Freund von Emil Beutinger. Er avancierte später zum Richter am baden-württembergischen Staatsgerichtshof. Amtsverweser des Landratspostens im Kreis Schwäbisch Hall war bis August 1945 Eduard Hirsch. Der ehemalige Abteilungsleiter bei der württembergischen Prüfungsanstalt für Körperschaften war während des Zweiten Weltkriegs Verwaltungschef der Polizei in Krakau und kehrte 1945 nach Württemberg zurück. Ein Seiteneinsteiger war der Waiblinger Landrat Anton Schmidt, vorher Gewerkschaftssekretär des Deutschen Metallarbeiter-Verbands (DMV) in Waiblingen. Einer seiner Mitarbeiter war Oberregierungsrat Gottlieb Kopp (1895 bis 1970), ehemaliger Präsident der Handwerkskammer Stuttgart.

Der kommissarische Nürtinger Landrat Karl Eberhardt arbeitete früher als Ministerialrat in verschiedenen Abteilungen des württembergischen Innenministeriums. Der Industriekaufmann und frühere Betriebsleiter Konrad Burkhardt war Landrat in Schwäbisch Gmünd. Einer seiner Mitarbeiter war Friedrich Wölz, zuvor im württembergischen Arbeitsministerium und im Reichsernährungs- und Landwirtschaftsministerium tätig. Landrat in Göppingen war der sozial engagierte und mit der Arbeiterbewegung verbundene Sozialpolitiker und Volkswirtschaftler Erich Krauß. Er nahm mit seinen Mitarbeitern teil – Architekt und Göppinger Stadtrat Immanuel Hohlbauch sowie Hotelier Carl-Hermann Gaiser.

Der Geislinger Oberbürgermeister Ernst Reichle war SPD-Landtagsabgeordneter, Geschäftsführer des Deutschen Metallarbeiter-Verbands (DMV) und während der NS-Zeit in verschiedenen Haftanstalten und Konzentrationslagern inhaftiert.

Zu den Teilnehmern der Landrätekonferenz gehörten außerdem: der Landrat in Künzelsau, Jurist Heinz Hohner und früherer Sachbearbeiter eines Stuttgarter Versicherungsunternehmens, der Ludwigsburger Landrat und Rechtsanwalt Hellmuth Jaeger, vor der NS-Zeit Reichsvorstandsmitglied der Deutschen Staatspartei und während des Kriegs Intendanturrat in der Wehrmacht, sowie Paul Eugen Kleih als kommissarischer Landrat in Mergentheim bis Juni 1945, seit 1930 Regierungsinspektor im Oberamt Mergentheim und später Oberregierungsinspektor. Der Schorndorfer Bürgermeister Walter Arnold arbeitete als stellvertretender Landrat in Waiblingen und unterstützte US-Beobachter Alfred Bingham als Dolmetscher.

Stadtführung zum Thema

Christian Schweizer bietet am Sonntag, 21. Juni, um 15.15 Uhr eine Stadtführung an, die sich mit dem Kriegsende und dem Treffen beschäftigt. Der Titel: „Murrhardt, der Zweite Weltkrieg und die Landrätekonferenz vom 20. Juni 1945“. Eingeplant werden sollten ungefähr anderthalb Stunden. Treffpunkt ist bei der Tourist-Info, Marktplatz 8, in Murrhardt. Die Teilnahme kostet zehn Euro pro Person, Kinder und Jugendliche bis 16 Jahre zahlen acht Euro. Eine Anmeldung zur Führung, die das Carl-Schweizer-Museum mit der Volkshochschule Murrhardt veranstaltet, ist Voraussetzung für die Teilnahme. Sie ist bei der TouristInfo unter Telefon 07192/213-777 oder bei der VHS unter 07192/9358-11 möglich. Das Tragen eines Mund-Nase-Schutzes und das Einhalten der Abstandsregel werden vorausgesetzt.

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Erstellt:
18. Juni 2020, 06:00 Uhr

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