Abschied vom Chef der Wasenschule

Es ist eine Herzenssache. Lange hat Michael Widmann für die Wasenschule gekämpft. Seit elf Jahren funktioniert sie bestens. Nun geht er in Ruhestand.

Michael Widmann steht vor seiner Wirkstätte.

© Lichtgut

Michael Widmann steht vor seiner Wirkstätte.

Von Frank Rothfuß

Stuttgart - Es ist alles ein bisschen anders in der Wasenschule. Verborgen ist sie für Unwissende. Versteckt in einer langen Betonwand am Rande des Wasens. Draußen nimmt der Rummel Fahrt auf. Hier drinnen sitzen 50 Kinder an Tischen, stecken die Köpfe in Bücher, schauen auf Laptops. Mittendrin ist Michael Widmann (63). Er ist Bereichslehrer für Kinder und Jugendliche von beruflich Reisenden. So heißt das offiziell. Gemeint sind die Kinder von Schaustellern, Artisten und Zirkusleuten. Oder fahrendes Volk, wie man sich selbstironisch nennt.

Heute schaut die Polizei vorbei. Prävention nennt sich das, vorbeugen. Wie in anderen Schulen auch. Doch der Unterrichtsstoff ist ein anderer als anderswo. Da geht es unter anderem darum, wie sichert man Wohnwagen gegen Einbrecher. Was tun, wenn man jemand da herumschleichen sieht? Denn an manchen Tagen haben die Schausteller ihre Tageseinnahmen über Nacht im Wagen.

Es ist halt alles ein bisschen anders an dieser Schule. Genauso, wie es Michael Widmann gefällt. Nach einer Banklehre hat er in Heidelberg Grund- und Hauptschullehrer studiert, reiste dann vier Jahre mit dem Circus Krone, unterrichtetet die Kinder der Artisten im Zirkuswagen. Für Daimler war er vier Jahre in Südafrika, unterrichtete die Kinder der deutschen Angestellten. Und wieder zurück wurde er Bereichslehrer sowie Patron der Wasenschule.

Lange Jahre hatten die Schausteller für die Wasenschule gekämpft. Viele schicken ihr Kind ins Internat. Doch das ist teuer. Nicht jeder kann sich das leisten. Und nicht jeder will seine Kinder nur in den Ferien sehen. Also reist der Nachwuchs mit, von Festplatz zu Festplatz und geht auf die Schulen am Ort. Die Kinder vom Wasen wurden bisher in fünf Cannstatter Schulen unterrichtet. Nun sind sie alle zusammen in der Wasenschule – offiziell eine Außenstelle der Eichendorffschule.

Gemeinsam mit den Schaustellerpfarrern hatte sich Widmann für diese im Land einmalige Lösung eingesetzt. Die Feuerwehr überließ der Schule einen Raum, und „das Wohlwollen des Kultusministeriums“ war hilfreich. Ebenso hilfreich war die praktische Begabung der Schausteller, sie bauten den Raum aus, verlegten PVC, installierten Schränke. 2015 war es dann so weit. Sie zogen ein, mit sechs Kindern. Wie gesagt, mittlerweile sind es 50.

Glücklicherweise ist Widmann kein Einzelkämpfer. Kollegin Sabine Biebries unterstützt ihn – und sage und schreibe 50 Ehrenamtliche. Banker, Ingenieure, Theologen, kaum eine Berufsgruppe ist unter den Bildungspaten nicht vorhanden, fast alle sind im Ruhestand, die fünf Wochen Frühlingsfest inklusive Aufbau und Abbau und die vier Wochen Volksfest nehmen sie sich alle Zeit. Eine Verbindung, die tief geht. Die Kinder halten Kontakt, melden sich auch von anderen Plätzen, fragen um Rat, auch wenn sie schon längst ihren Abschluss haben. Widmanns Frau weigere sich schon, mit ihm über den Platz zu laufen, erzählt er und lacht. Weil sie kaum vorankommen, viele rufen einfach: „Lehrer!“ Ein Ehrentitel.

Früher war es wichtig, dass die Kinder Saltos schlagen, Karussells reparieren oder Laster fahren konnten. Gedichte rezitieren und Logarithmen rechnen, das brauchte man nicht. Das hat sich geändert. Es gibt zu viele Schausteller – nicht jeder wird das Geschäft seiner Eltern übernehmen und davon leben können. Und wenn, wird er mit Hemdsärmeligkeit nicht weiterkommen. Zu leicht verheddert man sich sonst zwischen all den Verordnungen und Vorgaben von Finanzamt, Tüv, Gewerbeamt oder Lebensmittelkontrolleuren.

Und weil alles ein bisschen anders ist an dieser Schule, erklären sie das Berechnen von Flächen anhand eines Karussells. Also grüßt von der Tafel ein Karussell, der Satz des Pythagoras steht daneben und die Formeln zum Berechnen von Kreisfläche, Kreisausschnitt und Seillängen. Und die Frage: Wie verteile ich sechs Pferde gleichmäßig auf der Grundfläche?

50 Kinder, 50 Betreuer. Mit „diesem Schatz an Wissen“, erklärt Widmann, kann man wuchern. Das hört sich nach Luxus an, ist aber notwendig, denn jedes Kind bekommt von seiner Heimatschule die Lehrpläne mit und die Aufgaben, die es zu erfüllen hat. Jedes Kind lernt also anders, sie bringen an der Wasenschule die Lehrpläne von 16 Bundesländern und allen Schularten zusammen. Auch ihre Prüfungen schreiben die Kinder dort.

Beim Lernen wird ihnen Widmann auch künftig helfen. Vom Lehrer wird er nun zum ehrenamtlichen Bildungspaten. Und sonst? Freut er sich auf Ruhe und den Garten. Denn: „Gereist bin ich genug!“

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Erstellt:
8. Mai 2025, 22:06 Uhr
Aktualisiert:
9. Mai 2025, 21:56 Uhr

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