Bürgerengagement im Coronajahr

Das Quartiersprojekt „Gemeinsam Lust auf Leben – Generationsübergreifende Aktivitäten gemeinsam gestalten“ hat mit der Pandemie nicht die einfachsten Voraussetzungen gehabt und kam trotzdem gerade richtig, wie die Verantwortlichen bilanzieren.

Projektverantwortliche und Engagierte mussten sich mit Corona auf neue Rahmenbedingungen einstellen, was sehr gut gelungen ist. Die Gruppe Zeitschenker beispielsweise bietet Einkaufshilfsdienste für Ältere oder Menschen in Quarantäne an. Fotos: Adobe stock, Halfpoint (1)/J. Fiedler (3)

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Projektverantwortliche und Engagierte mussten sich mit Corona auf neue Rahmenbedingungen einstellen, was sehr gut gelungen ist. Die Gruppe Zeitschenker beispielsweise bietet Einkaufshilfsdienste für Ältere oder Menschen in Quarantäne an. Fotos: Adobe stock, Halfpoint (1)/J. Fiedler (3)

Von Christine Schick

MURRHARDT. Christian Müller bringt ein wichtiges Anliegen des Quartiersprojekts, für das Murrhardt im vergangenen Jahr den Zuschlag des Landes erhielt und bei dem Stadt, Kreis, die Volkshochschule Murrhardt sowie Fachleute im Schulterschluss zusammengearbeitet haben, gerne mit dem dänischen Begriff „hygge“ in Verbindung. „Hygge heißt, dass man es sich mit Freunden oder Bekannten gemütlich macht und sich so etwas Gutes tut. Er knüpft also an der Gemeinschaft an“, erklärt der Projektleiter den aus dem skandinavischen Raum stammenden Trend. Diesen Grundgedanken hat er in einer der vier zentralen Quartiersprojektgruppen – den Zeitschenkern – mit einfließen lassen. Zeitschenker sollten als Ehrenamtliche die eine oder andere kleine Alltagshilfe anbieten, um insbesondere auch Ältere oder Menschen mit Einschränkungen zu unterstützen. Vielleicht ist eine Glühbirne auszuwechseln oder ein Bild aufzuhängen, worüber sich Anknüpfungspunkte und Gespräche ergeben können. Im Idealfall münden die Kontakte in beständigeren Verbindungen. „Letztlich geht es um gelebte Nachbarschaft“, ergänzt Monika Amann, die das Projekt für den Landkreis mit begleitet hat und dabei auch ihr Wissen als Demenzfachberaterin einbringen konnte.

Dass Kontakte eine ziemlich schwierige Kategorie werden würden, wusste Christian Müller im November 2019 natürlich noch nicht, in dem er als Leiter des Projekts mit Sitz in der Volkshochschule Murrhardt startete. Zur Auftaktveranstaltung im Februar kamen denn auch 170 Teilnehmer. Die Interessierten aus Murrhardt und Umgebung waren aufgerufen, gemeinsam ihre Wünsche, Vorhaben und zentralen Themen in Bezug auf generationsübergreifende Aktivitäten und ein lebendiges Miteinander von Alt und Jung, Pflegebedürftigen und Gesunden, Migranten und Einheimischen zusammenzutragen.

Neben den Zeitschenkern entstanden die Gruppen Mobilität, Seniorenrat sowie Bauen und Wohnen. Dem zweiten Treffen der Engagierten kam dann der Lockdown im März zuvor. Da sich aber bereits rund 35 Zeitschenker gemeldet hatten, entstand in der Zusammenarbeit mit der Murrhardter Stadtverwaltung eine andere, nicht geplante Form der Unterstützung, die auf die Notwendigkeiten der Pandemiesituation reagierte: Einkaufshilfen. Christian Müller gewann 45 Menschen, die bereit waren, Besorgungen und Botendienste zu erledigen. Anfangs wurden auch Lebensmittel der Murrhardter Tafel an Bedürftige verteilt, die schließen musste. Später unterstützten Bürger Einzelne bis hin zu größeren Familien, die nicht selbst einkaufen konnten oder durften. „Diese Hilfsdienste laufen bis heute, in einzelnen Konstellationen auch als feste Verbindung, eine Art Tandem zwischen Ehrenamtlichem und Unterstütztem, beispielsweise weil eine Erkrankung im Hintergrund ist“, erzählt der Projektleiter. Bei rund 240 Einsätzen wurden 2200 Kilometer zurückgelegt, was damit zu tun hat, dass auch Menschen in Fornsbach und Kirchenkirnberg unterstützt wurden. Zu wichtigen Ansprechpartnern gehört beispielsweise ein Fußballtrainer eines deutsch-türkischen Vereins, der viele Helfer ansprechen kann, genauso wie der in der Flüchtlingsarbeit und -integration engagierte Verein Kubus mit Mitgliedern in Murrhardt. Dass sich das Quartiersprojekt so gut auf die neue Situation einstellen konnte, liegt für Monika Amann einerseits an dem flexiblen Grundkonzept, andererseits an der vorbildlichen Umsetzung in Murrhardt. Auch ein wichtiger Grundgedanke des Quartiersprojekts, nämlich dass Menschen aus ganz unterschiedlichen Kontexten und mit verschiedenen Erfahrungen zusammenfinden, zeigt sich für die Fachfrau gerade am Beispiel der Hilfsdienste. „Es geht ja darum, etwas zu ermöglichen, was die Bürgerschaft möchte und braucht. Und das hat sich in diesem Jahr einfach verändert. Man könnte also sagen, es war trotz Corona vieles möglich.“

Für den Aufbau war die professionelle Begleitung entscheidend, gleichzeitig ist es mit einer gut bestückten Liste an Ehrenamtlichen nicht einfach getan. „Da hat auch Zwischenmenschliches eine wichtige Rolle gespielt, das heißt, für mich hieß es, darauf zu achten, wer mit wem kann“, sagt Christian Müller. Nun, im zweiten Lockdown angekommen, war die Frage, was nach Abschluss des Projekts Ende Dezember fortgeführt werden kann. Müller wird bis Jahresende (außer an den Feiertagen) den Hilfsdienst weiterbetreuen, dann übernimmt nach Absprache mit der Stadtverwaltung die Stelle für Bürgerschaftliches Engagement.

Und bei den anderen Gruppen? „Der Tenor ist, dass es überall weitergeht“, so der Projektleiter. In Sachen Mobilität konnten die Engagierten an das bereits angestoßene Vorhaben Bürgerbus anknüpfen. Birgit Wolf, die neben der Volkshochschule auch die Stelle Bürgerschaftliches Engagement leitet, erinnert daran, dass Bürgermeister Armin Mößner für die Umsetzung wichtige Vorarbeit geleistet habe und die Bürgerstiftung als Unterstützer gewinnen konnte. „Der Wunsch aus der Bürgerschaft war da, ich denke, durch das Quartiersprojekt konnte das einfach noch etwas beschleunigt und schneller umgesetzt werden“, sagt sie.

Ähnlich war es beim Seniorenrat. Auch hier bestand das Anliegen bereits, solch ein Gremium ins Leben zu rufen. Mittlerweile gibt es einen Gemeinderatsbeschluss für einen Seniorenrat, dessen Arbeit bei Bedarf auch von einer 450-Euro-Kraft unterstützt wird, und zehn Anwärter, die bereit sind, zu kandidieren. „Eine Versammlung für die Wahl konnte noch nicht stattfinden, aber der grundsätzliche Fahrplan steht“, sagt Müller.

Die Arbeitsgruppe „Bauen und Wohnen“ sieht sich einem großen, komplexen Gebiet gegenüber. Es reicht von neuen Trends wie dem Tiny House über altersgerechte Wohnformen bis hin zu einer konkreten barrierefreien Umsetzung oder Umbauten in bestehenden Gebäuden. In einem ersten Schritt hat Ralph Ziemann als Sachverständiger und Architekt Schlaglichter auf das Thema barrierefreies Bauen und Anpassung an den Bestand geworfen. Da es auf dem Gebiet Unterstützung von Fachleuten braucht, wäre ein Ansatz, ein Netzwerk auch mit den entsprechenden Berufsgruppen zu schaffen. Eine Exkursion zu einer Pflegewohngemeinschaft oder anderen Wohnformen steht noch aus. Wo dann der Schwerpunkt gelegt werden soll, müssen die Beteiligten entscheiden.

„Das Interesse und die Bereitschaft, sich einzubringen, war gemessen an der Größe der Stadt enorm“, sagt Monika Amann. Zugute kam dem Projekt, das noch bis 31. Dezember läuft, die schon über Jahre währende, gewachsene Projektarbeit mit dem Landkreis auf dem Gebiet der Demenzthematik. So konnte beispielsweise die Kontaktstelle Anker mit Patricia Wirth und Ute Guggenmos ihre Arbeit im Kontext des Quartiersprojekts weiterführen, die allerdings nun zum Jahreswechsel auch endet.

Monika Amann, Birgit Wolf und Christian Müller sind sich einig: Das Modellprojekt hat nicht nur gezeigt, dass eine Weiterentwicklung der Lebensqualität für eine älter werdende Gesellschaft ein wichtiges Anliegen ist, sondern auch von der Zusammenarbeit der Beteiligten her sehr gut funktioniert hat.

Gab es auch Punkte, die schwierig waren? Müller räumt ein, dass er unterschätzt hat, wie viel Zeit und Vertrauen es braucht, um mit Demenzkranken einen Kontakt aufzubauen. Monika Amann ergänzt, dass hier natürlich eine professionelle Unterstützung auch ganz zentral ist. Es sei entsprechende Vorarbeit und fachliche Begleitung nötig, um ehrenamtliche Hilfe in solch sensiblen Bereichen gut zu integrieren. Alles könne und solle auch nicht von Ehrenamtlichen abgedeckt werden.

All die Erfahrungen werden in einer Art Broschüre zusammengefasst, die dann über das Landratsamt anderen Kommunen und Interessierten zur Verfügung gestellt wird. Dabei kann das Quartiersprojekt zudem Aspekte der Bachelorarbeit von Nina Telser, die Pflegewissenschaft in Esslingen studiert und das Vorhaben in dieser Form begleitet hat, berücksichtigen. Auch dies war Bestandteil des Projekts, das im Rahmen der Landesstrategie „Quartier 2020 – Gemeinsam.Gestalten.“ gefördert wurde. Beim Gesamtbudget von 72000 Euro hat sich der Rems-Murr-Kreis mit rund 20 Prozent beteiligt.

Bürgerengagement im Coronajahr

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„Der Tenor ist, dass es in allen Projektgruppen weitergeht.“

Christian Müller,

Leiter des Quartiersprojekts

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„Das Interesse und die Bereitschaft, sich einzubringen, war gemessen an der Größe der Stadt enorm.“

Monika Amann,

Demenzfachberaterin des Kreises

Bürgerengagement im Coronajahr

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„Der Wunsch nach einem Bürgerbus konnte schneller umgesetzt werden.“

Birgit Wolf,

Leiterin der Volkshochschule

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Erstellt:
16. Dezember 2020, 06:00 Uhr

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