Das Mögliche ist nicht gut genug
Der neue Wehrdienst ist ein Fortschritt. Doch die fehlende Verbindlichkeit wird zum Problem.
Von Tobias Heimbach
Berlin - Im Kalten Krieg gab es eine Forschungsrichtung, die zwar wichtig war, aber kaum wissenschaftlichen Standards entsprach. Man nannte sie spöttisch „Kreml-Astrologie“. Damals zerbrachen sich westliche Geheimdienstler, Militärs und Politiker den Kopf darüber, was in sowjetischen Führungszirkeln vor sich ging und welche Pläne es dort gab.
Diese Form der fundierten Spekulation ist wieder aktuell, spätestens seit Russland die Ukraine angreift. Man versucht zu verstehen, wie die Führung im Kreml tickt – oder genauer: was Wladimir Putin denkt. Fühlt er sich bedrängt oder arbeitet er offensiv daran, das russische Imperium auszudehnen?
Die Analyse solcher Fragen führt mitten in die deutsche Debatte über den Wehrdienst. Im Kern geht es dabei darum, das Denken von Wladimir Putin zu beeinflussen. Das Ziel der „Zeitenwende“ ist Abschreckung. Jeder Soldat, jeder Panzer, jede Drohne ist eigentlich eine Botschaft: Wenn du uns angreifst, dann geht das nicht gut für dich aus. Also wage es erst gar nicht.
Je besser jeder Soldat trainiert ist, je mehr einsatzbereite Panzer auf dem Kasernenhof stehen, je moderner die Drohne ist, desto klarer kommt diese Botschaft in Moskau an. Doch welche Botschaft sendet die schwarz-rote Koalition mit dem neuen Wehrdienst? Mit Freiwilligen soll Deutschland kriegstüchtig werden. Das wichtigste Land Europas stockt über zehn Jahre seine Streitkräfte um jährlich 8000 Soldaten auf – sofern sich genügend melden. Wird das einen Mann abschrecken, dessen Agenten Auftragsmorde in Berlin ausführen, der seine Streitkräfte auf 1,5 Millionen Mann verdoppeln will, dessen Truppen in der Ukraine Kliniken mit Neugeborenen bombardieren?
Erst wenn die Bundeswehr die selbst gesteckten Personalziele nicht erreicht, wollen Union und SPD noch einmal über eine Pflicht zum Wehrdienst diskutieren. Man kann sich denken, wie diese Debatte auf das falsche Gleis gerät, etwa, wenn gerade wichtige Wahlen anstehen. Deshalb wäre es angemessen gewesen, einen Automatismus für einen verpflichtenden Dienst ins Gesetz einzubauen. Das wäre vorausschauend gewesen. Die Union wollte das, die SPD hat es verhindert.
Die Motivlage ist klar: Die SPD fürchtet um ihren Ruf als „Friedenspartei“. Dabei ist die deutliche Mehrheit der Deutschen für die Einführung einer Wehrpflicht – auch die Anhänger der Sozialdemokraten. Bei aller Kritik sei gesagt: Ja, der von Schwarz-Rot ausgehandelte Wehrdienst ist ein Fortschritt. Es ist gut, dass ganze Jahrgänge gemustert werden, so wird die Bundeswehr bald einen Überblick darüber haben, wer im Ernstfall Wehrdienst leisten könnte. Vielleicht gibt auch der attraktive Sold von 2600 Euro manchem jungen Menschen einen Anstoß, sich doch freiwillig zu melden.
Niemand kann in Putins Kopf schauen. Aber man weiß, dass er den Zusammenbruch der Sowjetunion und den Verlust der Kontrolle über die unabhängig gewordenen Länder für eine „Katastrophe“ hält. Deutschlands Partner in Osteuropa fühlen sich massiv bedroht. Auch nach Hunderttausenden Toten in den eigenen Reihen will Putin den Kampf gegen die Ukraine nicht aufgeben. Er führt darüber hinaus einen Krieg der Nadelstiche gegen Nato und Europäische Union.
Die vergangenen Jahre haben es gezeigt: Wer sich darauf verließ, dass Putin sich mäßigen werde, lag meistens falsch. Stärke ist die Sprache, die Putin versteht. Stärke aber spricht nicht unbedingt aus dem Konzept zum neuen Wehrdienst. Sie folgt dem Prinzip des Machbaren.
Reicht das, um Putin abzuschrecken? Hoffentlich. Doch das Prinzip Hoffnung ist bei so einer existenziellen Frage ein bisschen zu wenig.
