Den Lebensweg fortsetzen – gemeinsam

Olena Butova ist mit ihrer Familie Mitte März des vergangenen Jahres aus dem Osten der Ukraine geflohen und lebt seither in Murrhardt. Mittlerweile engagiert sie sich in der Flüchtlingsarbeit und möchte andere Landsleute unterstützen sowie den Menschen hier etwas zurückgeben.

Die Familie im vergangenen Jahr bei einem Ausflug auf der Schwäbischen Alb – vor Schloss Lichtenstein – mit Olena Butova, ihrem Mann Dmytriy Butov und den beiden Töchtern Polina und Kira (vorne). Familienmitglied Nummer fünf ist Bella. Die kleine Hündin war vier Monate alt, als Kira sie zum Geburtstag bekam. Fotos: privat

Die Familie im vergangenen Jahr bei einem Ausflug auf der Schwäbischen Alb – vor Schloss Lichtenstein – mit Olena Butova, ihrem Mann Dmytriy Butov und den beiden Töchtern Polina und Kira (vorne). Familienmitglied Nummer fünf ist Bella. Die kleine Hündin war vier Monate alt, als Kira sie zum Geburtstag bekam. Fotos: privat

Von Christine Schick

Murrhardt. Das Smartphone von Olena Butova macht im Minutentakt auf sich aufmerksam und wer sie am Bistrotisch sitzen sieht und auf Englisch telefonieren hört, könnte vielleicht auch auf die Idee kommen, dass sie eine Geschäftsfrau ist oder in einem internationalen Projekt arbeitet. Ganz falsch ist der Eindruck auch nicht, aber da ist eben noch einiges mehr.

Olena Butova ist mit ihrer Familie vor dem russischen Angriffskrieg aus dem Osten der Ukraine geflohen. Die Familie wurde mit Beginn des Krieges aus ihrem bis dato gutbürgerlichen Leben gerissen. „Wir sind am 16. März 2022 hier angekommen“, erzählt sie auf Englisch. Sie, ihr Mann Dmytriy Butov und ihre beiden Töchter Kira (14) und Polina (17) haben in der Walterichstadt Zuflucht gefunden. Nicht zufällig, sie kommen aus der Stadt Chugujew, mit der Murrhardt schon viele Jahre Kontakte über den Freundschaftsverein und die Reservistenkameradschaft pflegt. „Ich habe Bürgermeister Armin Mößner beim Besuch einer Murrhardter Delegation erlebt, kannte ihn also schon vom Sehen her“, erzählt Olena Butova. Deutschland hatten sie aber bis dahin noch nicht kennengelernt.

Mit Beginn des Angriffskrieges hat die Familie die drastische Zerstörung erlebt. Sie verbrachte rund drei Wochen im Keller, 30 Menschen, unter ihnen fünf Kinder, suchten dort Schutz, weil nicht jeder der Nachbarn einen Keller hat. „Meine Tochter Kira ist auf den Rollstuhl angewiesen“, sagt Olena Butova, und dass die Angst des Mädchens mit den Bombenangriffen immer mehr zugenommen habe. „Sie ist verstummt, konnte drei Tage lang überhaupt nicht sprechen.“ Die Eltern mussten feststellen, dass sich die Lage nicht besserte, eher noch zuspitzte, und wussten schließlich, sie müssen reagieren. Sie entschlossen sich zur Flucht und obwohl ihr Mann früher Pilot war, war dies vor dem Hintergrund, sich um ein Kind mit Handicap kümmern zu müssen, auch rechtlich in Ordnung, erzählt sie. Ihre ältere Tochter konnte und kann insofern unterstützen, als sie bereits Deutsch gelernt und sich mehrere Zertifikate am Goethe-Institut erarbeitet hat. Ihr Ziel damals: nach dem Abitur ein Studium in Österreich.

Die Familie ist vier Tage unterwegs,

bis sie in Murrhardt ankommt

Alles musste sehr schnell gehen, die Familie packte das Nötigste in ihr Elektroauto, fuhr los und war vier Tage unterwegs, bis sie in der Walterichstadt eintraf. Dort half ihr vor allem die Familie von Thomas Schneider, später kamen auch viele andere Menschen in Murrhardt hinzu. „Ich habe das Gefühl, wir sind von Menschen umgeben, die uns unterstützen.“Olena Butova berichtet von der Hilfe in Bezug auf ihre Tochter Kira: Zu Anfang war sie in der Bodelschwinghschule, konnte aber später in die Herzog-Christoph-Schule wechseln. Mit möglich gemacht hat diesen Wechsel Stefanie Drach-Minuth, die stellvertretende Rektorin an der Bodelschwinghschule. „Sie hat uns unheimlich viel geholfen.“ Polina geht mittlerweile aufs Heinrich-von-Zügel-Gymnasium.

Anfangs kam die Familie in einer Wohnung auf dem Gelände des Seniorenheims Hohenstein unter. Später im Herbst vergangenen Jahres unterstützten sie Bekannte und Murrhardter dabei, ein barrierefreies Appartement zu suchen und umziehen zu können. „Es war klar, wie schwer es ist, etwas zu finden, wir sind sehr dankbar.“ Olena Butova wollte etwas zurückgeben und aktiv werden, fing auch zuvor schon an, sich mit anderen Ukrainerinnen und Ukrainern zu vernetzen. Nicht von Nachteil ist, dass sie selbst gut ausgebildet ist: Sie hat ein Diplomstudium in öffentlicher Verwaltung und auf Leitungsebene gearbeitet, unter anderem in Projekten der Entwicklungszusammenarbeit sowie in einem Zentrum für Behinderte. Ihr Mann hat ein Ingenieurstudium im Luftfahrtbereich, wechselte später in ein anderes Berufsfeld und hat sich in der Baubranche eine eigene geschäftliche Existenz aufgebaut. „Wir haben uns viel erarbeitet, mussten all das von heute auf morgen verlassen.“

Nun möchte Olena Butova ihre Chancen nutzen, um Brücken zu schlagen und Teil der neuen Gemeinschaft zu werden. Erste Schritte waren, gemeinsam mit weiteren Ukrainerinnen und Ukrainern im Mai 2022 ein Dankesfest zu organisieren und beim Murrhardter Sommerpalast für die Gäste landestypische Speisen zu kochen. Außerdem entstanden Kontakte zu den Vereinen Pyramidea und Kubus, die in der Flüchtlings- und Integrationsarbeit tätig sind, sowie zum Kreisjugendring. Mit letzterem entwickelte sich eine Projektarbeit, bei der unter der Regie von Olena Butova behinderte Kinder anderer ukrainischer Flüchtlingsfamilien im Rems-Murr-Kreis unterstützt werden. Bis Ende des vergangenen Jahres begleitete sie 22 Kinder und Jugendliche unterschiedlichen Alters und mit ganz verschiedenen Hintergründen sowie deren Eltern.

In Projekt begleitet sie ukrainische Kinder mit Handicap im Rems-Murr-Kreis

Mal sind es gezielte Informationen, die wichtig sind. „Beispielsweise einen Facharzt zu finden oder Dokumente zu verstehen“, erzählt sie. Aber auch gemeinsame Aktivitäten waren Teil des Projekts, Ausflüge und Treffen mit den jungen Leuten, wobei Olena Butova sagt, dass dabei ein inklusiver Ansatz genauso das Ziel sei wie (kleine) Angebote für ein Ankommen. „Ich finde es wichtig, dass sie rausgehen und nicht nur Nachrichten schauen.“ Auch das hat für sie mit einem gemeinsamen Leben und Überleben und mit einem Lebendigbleiben zu tun.

Die Mutter zweier Töchter versucht, in dieser Hinsicht auch für sich selbst eine Art von Balance zu finden. „Es ist schrecklich, was jetzt in der Ukraine passiert“, sagt sie angesichts des Kriegs, der Zerstörung, der Gewalt und ihrer Opfer. Und sie fragt sich, wie die Zukunft aussieht und wie junge Menschen später mit den Folgen leben können. Auch vor dem Hintergrund, dass Ukrainerinnen und Ukrainer durch Krieg, Vertreibung und Flucht Schlimmes erlebt haben und dann in Murrhardt oder an anderen Orten des Rems-Murr-Kreises vor einem Neuanfang stehen, möchte sie ihre Arbeit fortsetzen. Es ist ihr wichtig, Landsleuten zu helfen, nicht zu verzweifeln, genauso wie der Gemeinschaft hier etwas zurückzugeben. „Ich bin offen für verschiedene Aufgaben und Ideen“, sagt sie und lächelt.

Im Gespräch mit Jochen Schneider, der für Kubus und Pyramidea tätig ist, hat sich bereits herauskristallisiert, dass auch die beiden Vereine eine weitere Zusammenarbeit ermöglichen wollen. Insofern wird sich Olena Butova aller Wahrscheinlichkeit nach weiter in der Integrationsarbeit für ukrainische Familien, insbesondere für junge Menschen, engagieren. Mittlerweile hat sie auch zum Jugendamt des Kreises Kontakte knüpfen können. Im Sinne einer Unterstützung gibt es viel zu tun, wie sie weiß – eine Bleibe finden, die steigenden Energiekosten und einen ganz neuen Alltag schultern. Dieser neue Alltag bringe ja auch Chancen mit sich – wie jeder neue Tag. Ihre Tochter Kira macht es ihr vor. Nach Weihnachten habe sie sich so sehr auf die Schule gefreut.

Brücken schlagen ist Olena Butova wichtig. Die Möglichkeit dazu hat sie gemeinsam mit Ukrainerinnen beim Sommerpalast genutzt und für die Gäste landestypische Speisen gekocht.

Brücken schlagen ist Olena Butova wichtig. Die Möglichkeit dazu hat sie gemeinsam mit Ukrainerinnen beim Sommerpalast genutzt und für die Gäste landestypische Speisen gekocht.

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Erstellt:
18. Januar 2023, 06:00 Uhr

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