Die Lebenslust wiegt dann doch mehr

Nathalie Weber beschreibt in ihrem Buch „Folge dem Kompass deines Herzens“ ihren Weg aus der Essstörung. Die biografischen Schilderungen vermitteln eindrücklich, was die Krankheit bedeutet und warum es sich lohnt, es mit ihr aufzunehmen.

Nathalie Weber, die heute bei Freiburg lebt, mit ihrer acht Monate alten Tochter Liah. Foto: privat

Nathalie Weber, die heute bei Freiburg lebt, mit ihrer acht Monate alten Tochter Liah. Foto: privat

Von Christine Schick

FORNSBACH. Es gibt viel Fachliteratur über Anorexie, ebenso sind Autobiografien zum Thema erschienen. Aber diese Krankheitsgeschichten sind auch sehr individuell und machen ganz verschiedene Facetten auf. Wie die von Nathalie Weber, die in Backnang geboren und in Fornsbach aufgewachsen ist. Sie hat sich entschlossen, ihre Geschichte, ihren Weg aus der Essstörung nachzuzeichnen. Erreichen möchte sie mit ihrem Buch neben Betroffenen Angehörige und Freunde von Menschen mit Essstörungen sowie Lehrer. Zu Beginn schildert die heute 27-Jährige, dass sich ihre Anorexie fast unbemerkt entwickelt. Schwere Schicksalsschläge gibt es nicht. Nathalie Weber bezeichnet ihre Kindheit als glücklich, und doch setzen Bemerkungen in der Schule und Schwierigkeiten in der Pubertät diesen unheilvollen Umgang mit dem Essen beziehungsweise Nicht-Essen in Gang.

Ihre heutige Interpretation: Im Kern ist die Krankheit der Versuch, die Kontrolle über das eigene Leben zu behalten, zumindest beim Essen. Doch der schlägt ins Gegenteil um, sie ist eben nicht mehr Handelnde, sondern vielmehr Getriebene. Nathalie Weber nimmt so drastisch ab, dass ihre Lehrerin aufmerksam wird und gemeinsam mit ihr eine Beratungsstelle aufsucht. Ihre Mutter bemüht sich um einen Therapieplatz. Nathalie Webers Gedanken kreisen ständig ums Essen, es gibt Listen, Uhrzeiten und selbst gesteckte Regeln. Noch ist ein Klinikaufenthalt eine Horrorvorstellung, aber es taucht auch die Angst auf, mit der Krankheit nicht mehr klarzukommen. Ihre Periode bleibt aus, die Pille soll Spätfolgen verhindern. Eine weitere Begleiterscheinung: Sie friert ständig. Trotzdem fährt Nathalie Weber auch noch Fahrrad, um ihr Gewicht kontrollieren zu können. Als sie sich in der Umkleidekabine sieht, erschrickt sie selbst, ändern kann sie an ihrer Lage aber erst mal nichts.

Die Situation spitzt sich zu: Ihr Gewicht fällt unter 40 Kilogramm und die Mutter merkt, dass sie bei den Angaben flunkert. 2010 liegt sie bei 37,8 Kilogramm. Sie hat das erste Mal Angst, zu sterben. Es dauert, bis sie sich in der ambulanten Therapie öffnen kann. Eine wichtige Rolle spielt, dass sie ein Mädchen kennenlernt, das auch an Magersucht leidet und ihr sagt, ohne Klinikaufenthalt hätte sie es nicht geschafft. Auch sie ringt sich schließlich zu einer stationären Behandlung durch. Die richtige Entscheidung. Die neue Umgebung, die Angebote und der Wille, gesund zu werden, helfen ihr und spornen sie an. Ihr Hungergefühl kehrt zurück, aber es sind auch viel Kraft und Ausdauer nötig, um über sich, die eingefahrenen Mechanismen und Alternativen nachzudenken und Letztere nach und nach umzusetzen.

Sie hat Angst, zu Hause wieder in alte Muster zu verfallen. Bei einem ersten Wochenende außerhalb der Klinik erfährt sie aber auch etwas Überraschendes: Eine Party und das gemeinsame Feiern mit Freunden machen ihr klar, wie viel das Leben noch bereithält. An diese Lebenslust kann sie anknüpfen und die Schilderungen machen zudem deutlich, dass es jenseits der Krankheit auch Bereiche gibt, die ihr den Weg ebnen – sie lernt leicht und die Selbstreflexion ist nun ein stetiger Begleiter. Ihren 18. Geburtstag feiert sie ausgiebig, beginnt ihre Ausbildung als Gesundheits- und Krankenpflegerin, hat ihren ersten festen Freund. Die neuen Lebensthemen sind wichtig und stehen in positiver Konkurrenz mit der schwächer werdenden Essstörung. Aber immer wieder flammt das Thema auf – beispielsweise weil sie Angst hat, durch die Arbeit an ihre körperlichen Grenzen zu geraten, oder als es in der Beziehung Konflikte gibt. Und doch gewinnt die Lebenslust die Oberhand, sie holt einiges nach.

Mittlerweile erkennt sie auch recht gut, dass die Krankheit bei Krisen immer wieder, wenn auch sachte, anklopft, und ist gewarnt. Sie genießt die größer werdenden Freiheiten und das Leben. Das Leben wiederum hält seine eigenen Herausforderungen bereit. Die nächsten Schritte: Nach der Trennung kommt sie wieder mit ihrem Freund zusammen, sie studiert und die beiden heiraten. Als sich der Kinderwunsch meldet, sie die Pille absetzt und die Periode ausbleibt, hadert sie mit sich, da sie dies als Spätfolge ihrer Anorexie wähnt. Sie lässt sich therapeutisch begleiten und holt sich auch ärztliche Unterstützung in einem Kinderwunschzentrum. Sie ist dankbar und glücklich, dass sie mit einer Tochter – „ihr kleines Wunder“ – beschenkt wird. Im Buch heißt es auf Seite 241: „Ich hoffe, ich konnte Dir mit meiner Geschichte Mut machen und zeigen, dass es einen Weg heraus aus der Anorexie gibt. Es lohnt sich zu kämpfen.“

Buch und E-Book

Nathalie Weber: Folge dem Kompass deines Herzens. Mein Weg aus der Essstörung. Paperback, Hardcover und E-Book, 11,90 Euro, 248 Seiten, ISBN: 978-3-347-20139-2. Das Buch ist bei Tredition erschienen. Mehr Informationen und Bestellung: https://tinyurl.com/7ep64534

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Erstellt:
17. April 2021, 06:00 Uhr

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