Geschichtslehrer im Südwesten schlagen Alarm
„Die Schüler fragen leider selten: Kann das stimmen?“
„Den Krieg hat doch Polen provoziert.“ – „Die Juden waren irgendwie selbst schuld.“ Solche Sprüche kennt auch Volker Habermaier vom Verband der Geschichtslehrer in Baden-Württemberg. Was kann man dagegen tun?

© dpa/Sven Hoppe
Der Besuch von Gedenkstätten ist eine Möglichkeit, Jugendliche über die Grauen des Nationalsozialismus zu informieren.
Von Eberhard Wein
Der Verband der Geschichtslehrer schlägt Alarm. 80 Jahre nach der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus halte die Verharmlosung und Leugnung der NS-Verbrechen immer mehr Einzug in deutschen Klassenzimmern. „Gegen kurze Tiktok-Videos sind wir Lehrer im Hintertreffen“, sagt der Vorsitzende des baden-württembergischen Geschichtslehrerverbandes, Volker Habermaier, unserer Zeitung. Trotzdem hat er eine Strategie, mit der man die Schüler packen kann.
Herr Habermaier, hat der Wissensstand der Schüler über den Nationalsozialismus tatsächlich so stark nachgelassen?
Jein. Es gibt nach wie vor Schülerinnen und Schüler, die sehr viel an Wissen mitbringen, weil sie sich dafür interessieren. Manche haben sogar Bücher gelesen. Es gibt aber auch Schüler – und die werden mehr –, die wenig bis gar nichts wissen. Das begegnet mir mittlerweile selbst am Gymnasium.
Gleichzeitig nehmen offenbar auch Verharmlosung und Leugnung von NS-Verbrechen zu. Was haben Sie im Klassenzimmer da schon erlebt?
Da bin ich manchmal froh, wenn die Leute nur „nichts“ wissen. Das, was Alice Weidel über Sozialismus und Hitler gesagt hat . . .
. . . dass Adolf Hitler Kommunist gewesen sei . . .
. . . das begegnet mir auch im Klassenzimmer. Vor allem gibt es seit dem Krieg im Gazastreifen aber vermehrt antisemitische Bemerkungen. Das höre ich als Direktor nicht unbedingt selbst, aber das erzählen mir meine Kollegen aus der Fachschaft. Da kommen wirklich solche Sätze: „Die Juden waren selber schuld.“ Oder direkt in Bezug auf den Gaza-Krieg: „Die Juden sind eigentlich nicht die Opfer, sondern die Täter.“ Von den Morden der Hamas wird gar nicht geredet.
Spielt es eine Rolle, ob viele migrantische Kinder in einer Klasse sind?
Je stärker die muslimische Community in einer Klasse ist, desto eher hören wir solche Sätze. Wir haben uns aber auch an der Schule mit antiislamischem Rassismus beschäftigt, weil wir merken, dass diese Schülerinnen und Schüler unter einem Generalverdacht stehen und sich offenbar radikaler äußern, als sie es täten, wenn es nicht so wäre. Man schimpft über Muslime und stellt sie pauschal unter Terrorverdacht. Und die Muslime schimpfen über Juden, die angeblich die Welt beherrschen.
Wo beziehen die Schüler ihr Wissen her?
Leider nicht aus unseren Geschichtsbüchern. Sehr viele schauen sich irgendwelche Videos an und haben nicht die Medienkompetenz zu entscheiden, was eine zuverlässige Quelle ist und was einseitige politische Interessen verfolgt. Die Schüler medienkritischer zu machen ist eine ganz große Aufgabe, die wir als Schule in den nächsten Jahren haben. Wir dachten, wir wären da gut unterwegs. Wir sind aber im Vergleich zu den kurzen Tiktok-Videos immer im Hintertreffen. Ich erlebe wenige Schüler, die so etwas angucken und sagen: „Das taugt nichts. Das steht im Geschichtsbuch anders.“ Ich erlebe viele, die ihr Halb-, Viertel- oder Falschwissen daraus ziehen. Ich erlebe aber auch viele, die es überhaupt nicht interessiert. Und leider gibt es zu wenig die Kultur, dass die Schüler bei ihrem Lehrer nachfragen: „Sie sind doch vom Fach. Kann das stimmen?“ Eigentlich wäre die Schule der Ort, um über solche Dinge zu reden, und zwar vom Schüler ausgehend – das hätte den größten Effekt.
Der Nationalsozialismus steht erst in der neunten Klasse im Geschichtsunterricht auf dem Lehrplan. Ist das zu spät?
Der Nationalsozialismus kommt immer wieder vor: in Religion, in Ethik – auch früher schon. In Deutsch werden Jugendbücher gelesen, die sich mit dieser Zeit beschäftigen.
Ab welchem Alter sollte man denn als Eltern mit seinen Kindern darüber sprechen?
Immer, wenn einem diese Zeit begegnet: weil etwa Kriegszerstörungen noch sichtbar sind. Ich habe das mit meinen Kindern selbst erlebt, als wir zum Beispiel im Urlaub in Polen an einer Hausmauer noch Einschusslöcher entdeckt haben. Wenn jetzt, 80 Jahre nach Kriegsende, die Medien berichten, dann können das auch die Kleineren schon mitbekommen. Natürlich kann ich einem Kleinkind nicht erzählen, wie der Vergasungsprozess in Auschwitz funktioniert hat. Aber es ist schon Aufgabe für Eltern und Schule, mit den Kindern auf kindgerechte Weise über diese Zeit zu sprechen, wenn das Kind fragt.
Die Zeitzeugen sterben langsam aus. Lässt sich diese Lücke füllen?
Ich habe solche Begegnungen jahrelang gemacht. Ich weiß, wie sehr junge Menschen beeindruckt, was diese Zeitzeugen sagen. Und ich weiß, was für eine Lücke sie hinterlassen. Wir haben aber auch Zeitzeugen der nachfolgenden Generationen: die Kinder und Enkel von Opfern, aber auch Tätern. Da bekommt man mit, was es mit Familien macht, wenn ein großer Teil fehlt oder wenn Täter in der Familie sind. Allerdings können auch gefilmte Zeitzeugenberichte unendlich beeindruckend sein. Wenn zum Beispiel im Film „Shoah“ von Claude Lanzmann ein KZ-Häftling erzählt, wie er Leichen ausgraben musste und er plötzlich an einer dieser halb verwesten Leichen seinen eigenen Ehering erkennt. Ich habe noch nie erlebt, dass Schülerinnen und Schüler von einer solchen Szene nicht gepackt gewesen wären.
Das hilft auch gegen die Schlussstrichmentalität?
Ich habe das oft erlebt, dass die Schüler gesagt haben: „Ach, nicht schon wieder.“ Mit Statistiken oder Bildern von Leichenbergen erreicht man da am wenigsten. Aber wenn ich einen biografischen oder regionalen Zugang gewählt habe, habe ich sie immer gekriegt. Wenn die Schüler in Lebensgeschichten eintauchen konnten oder wenn sie sehen konnten, was Verfolgung und Entrechtung von Juden bei ihnen vor Ort bedeutet haben, wenn sie begreifen, was das alles mit Menschen macht, dann habe ich noch nie erlebt, dass Jugendliche nicht gefesselt waren.
Dann gibt es noch eine Chance?
Ja. Ich habe gerade eine sehr migrantisch geprägte neunte Klasse. Deren Eltern kommen aus vielen Ländern. Die haben ganz klar gesagt: Wir leben hier und wir müssen uns damit auch beschäftigen. Das gehört irgendwie auch zu uns.
Ruf nach neuen Wegen
MahnungDer Verband der Geschichtslehrerinnen und -lehrer (VGD) und der Verband der Historikerinnen und Historiker (VHD) haben in einer gemeinsamen Erklärung zum 80. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus auf den zunehmenden Antisemitismus in deutschen Schulen hingewiesen. Es bestehe dringender Handlungsbedarf. In der Erinnerungskultur für Jugendliche müssten neue Wege gegangen werden.
ExperteVolker Habermaier ist Vorsitzender des Südwestdeutschen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes für historische , politische und ökonomische Bildung. Der 62-Jährige stammt aus Ludwigsburg und leitet das Georg-Büchner-Gymnasium im südbadischen Rheinfelden.