Es geht um praktische, umsetzbare Hilfe
Der Freundschaftsverein Murrhardt/Tschugujew/Malinowka möchte Ukrainerinnen und Ukrainer in der schweren Zeit des Kriegs unterstützen, ob in der dortigen Region oder als Flüchtlinge. Die früheren Kontakte sind dabei wertvoll und zeigen gleichsam, wie drastisch die Lage bereits ist.

Über den Freundschaftsverein war ein reger Austausch möglich. Bei der Jubiläumsfeier der Murrhardter Landfrauen zu ihrem 25-jährigen Bestehen 2011 hat beispielsweise die ukrainischen Folkloregruppe aus Malinowka mitgewirkt. Archivfoto: privat
Von Christine Schick
Murrhardt. Christian Schweizer, Vorsitzender des Freundschaftsvereins Murrhardt/ Tschugujew/Malinowka, erreicht am vergangenen Dienstagabend die E-Mail einer Bekannten, die über die Lage in Tschugujew berichtet. Die Stadt liegt im Osten des Landes, nicht weit von Charkiw entfernt. Es wird klar, was der Krieg auch für die Menschen dort bedeutet: „Tschugujew wird ständig beschossen und Charkiw ist praktisch zerstört“, schreibt die Ukrainerin. Mit Blick auf den Wunsch des Vereins, zu helfen, informiert sie über die generelle Situation. Die Anreise nach Charkiw beschreibt sie als schwierig und gefährlich, nur Einheimische mit Reisepass und Registrierung sowie humanitäre Hilfe mit offiziellen Belegen seien zugelassen. Über 600 mehrstöckige Häuser seien durch Raketen beschädigt und nicht mehr aufzubauen, „ich spreche nicht einmal von den Toten und Verletzten“. Auch in Tschugujew sind rund zehn mehrstöckige Häuser zerstört, so ihre Einschätzung, die Lage mit Blick auf die medizinische Situation ist schwierig. Von Ärzten der Kreisklinik habe sie eine Liste an notwendigen Medikamenten erhalten, die Beschaffung vor Ort sei so gut wie unmöglich, da die Apotheken außer Betrieb seien.
Auch die Lebensmittelversorgung ist schwierig. „Es gibt lange Schlangen für Brot, die Geschäfte sind leer und wenn etwas geliefert wird, gibt es wieder lange Schlangen.“ Die humanitäre Hilfe könne den Bedarf zurzeit nicht decken. Insofern bittet die Bekannte, die zurzeit selbst nicht in der Stadt ist und versucht, Unterstützung von außerhalb zu koordinieren, um Medikamente, Babynahrung und haltbare Produkte und beschreibt, wie eine Übergabe an der Grenze von einem Helfer- zu einem Empfängerfahrzeug und die Logistik aussehen könnten. „Es verkehren keine Züge nach Tschugujew. Brücken werden gesprengt, Straßen werden beschädigt.“ Es sind ausschließlich Evakuierungszüge, die noch von Charkiw aus nach Poltawa, Kiew und Lwiw fahren, berichtet die Ukrainerin.
Vor diesem Hintergrund macht Christian Schweizer klar, dass Hilfsaktionen gut überlegt sein sollten. Die einfachste und effektivste Form der Unterstützung sei über Geldspenden – beispielsweise auch an den Freundschaftsverein, um Familien, die als Flüchtlinge aus Tschugujew nach Murrhardt kommen, mit Bargeld unter die Arme zu greifen. Nach seinen Informationen haben Ukrainerinnen und Ukrainer dort nicht mehr die Möglichkeit, ihre Griwna in Euro umzutauschen. Die Banken verwehrten sich dem, möglicherweise auch, um nicht in finanzielle Probleme zu geraten. „Das heißt, wenn sie hier ohne ein Dach über dem Kopf und völlig mittellos dastehen, können wir so einige Anschaffungen ermöglichen“, sagt Schweizer. Ebenfalls unterstützen möchte der Verein Projekte für beziehungsweise in der befreundeten ukrainischen Stadt und Umgebung, und das Vereinskonto ist nun in ein Spendenkonto umgemünzt.
Direkte Fahrten ins Gebiet sind keine Option, aber über den Freundschaftsverein und die früheren Aktivitäten gibt es Kontakte zu dem größeren Partnerschaftsverein Charkiw/Nürnberg, über den es eine noch funktionierende Bankverbindung gibt. Schweizer hofft, dass über den Partnerschaftsverein entweder finanzielle Unterstützung oder auch Hilfslieferungen möglich sind. Wie sich das umsetzen lässt, ist für ihn aber stark von der aktuellen Lage im Kriegsgebiet abhängig. „Am dringendsten gebraucht werden Medikamente, Hygieneartikel und Konserven“, stellt er fest. Letztere machen nur Sinn, wenn sie nicht in Gläsern und robust verpackt sind. Aber auch in Bezug auf die Flüchtlinge hier gebe es gute Möglichkeiten, zu helfen. „Die Familien brauchen für ihre Kinder einen Platz in der Kita oder Schule, die Erwachsenen werden sich nach einer Arbeitsmöglichkeit umsehen und dann geht es darum, die Kenntnisse und Fähigkeiten einzuschätzen.“
Christian Schweizer geht davon aus, dass sich auch die Verantwortlichen in Verwaltung und Gemeinderat für ein gutes Ankommen einsetzen, habe es doch durch den Freundschaftsverein viele Besuche, Reisen und ein gegenseitiges Kennenlernen gegeben. Für ihn haben diese Kontakte auch ein Bild von der Stadt, vom Land und den Menschen entstehen lassen, das weniger schwarz-weiß ausgestattet ist, als es die Situation jetzt unter der Gewalt des Kriegs erscheinen lässt. In Tschugujew leben nach seinen Informationen über 80 Prozent Russen, die aber nicht automatisch putinfreundlich seien. „Die Ukraine ist ein multiethnischer Staat und der Zentralismus hat unheimlich viel gelähmt“, sagt er und sieht das Land in einer gewissen systemischen Zerrissenheit zwischen ehemaligem Sozialismus und Neokapitalismus.
Gleichsam gebe es aber auch noch eine gemeinsame Kultur und eine Verbundenheit, die über die Zeit entstanden ist, ganz abgesehen von den konkreten Biografien, die gerade im Osten des Landes miteinander verflochten sind. Sein Beispiel: Ein junger Mann, dessen Vater aus dem russischen Belgogrod und dessen Mutter aus dem ukrainischen Tschugujew stammt, verfüge wie weitere in der Region über Pässe aus beiden Ländern. Der 23-Jährige arbeitet bei einem Wirtschaftsunternehmen in Nizza und sei verzweifelt. Reise er nun in die Ukraine, drohe ihm die Verhaftung, ähnlich würde es aussehen, ginge er nach Russland. Angesichts des Kriegs sich als Angehöriger einer der Konfliktparteien in den Kämpfen wiederzufinden, hält es Schweizer für besser, wenn er weiter seiner Arbeit in Frankreich nachgeht. „Ich habe gesagt, vielleicht kann er so beiden Seiten helfen“, erzählt er und dabei denkt er auch an die Lösung von Konflikten im Sinne einer friedlichen, demokratischen Tradition, für deren Entwicklung in Deutschland von Kriegsende bis heute viel mehr Zeit gewesen sei.
Auch in diesem Sinne beobachtet er die Anfeindung von Menschen russischer Nation hierzulande mit Sorge. „Das geht gar nicht“, sagt er, und wenn Konflikte sich bis nach Deutschland weitertragen und drohen, hier ausgetragen zu werden, müsse man klarmachen, welche Regeln in Deutschland gelten. Gleichsam müsse einem bewusst sein, dass die Menschen aus der Ukraine, die nun als Flüchtlinge hierherkommen, meist konservativer, stark kirchlich geprägt seien. Er plädiert aber vor allem dafür, die positiven Seiten zu sehen: Über die Menschen entstünden wieder neue Verbindungen, die später, wenn hoffentlich wieder Frieden sei, nach einer Rückkehr weiterbestehen.
Nach Tschugujew fahren keine Züge mehr, Brücken und Straßen werden zerstört.Zur Vereinsgeschichte Der Freundschaftsverein Murrhardt/ Tschugujew/Malinowka wurde im November 2008 gegründet, um die ehemals eher auf einem privat-familiären Kontakt sowie auf einer eher militärhistorisch geprägten Patenschaft zu den Murrhardter Reservisten (erster Besuch in der Ukraine 2007) basierenden Verbindungen organisatorisch und personell auf eine breitere, zivilgesellschaftliche Basis zu stellen. Gründungsvorsitzender war Thomas Schneider. Viele Besuche und Gegenbesuche wurden organisiert und bei Rundreisen die Kultur und Geschichte der beiden Länder gegenseitig vermittelt und die Beziehungen vertieft. Weiterhin entwickelten sich auch Kontakte zu Murrhardter Betrieben und ein reger Informationsaustausch zu gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Themen. Dies mündete auch in Besuchen mit einer Abordnung von Murrhardter Stadträten und Bürgermeister Armin Mößner im Jahr 2012. Das Interesse an einer offiziellen Patenschaft wuchs und so kam es auch zur informellen Einbindung von Freunden aus der Ukraine bis hin zur Teilnahme an Feiern in Frankreich, schreibt Christian Schweizer zur Geschichte. „Vielen Murrhardtern wird ja auch noch die sehr beeindruckende Rede von Oberst Iwan Fjodorowitsch Filonenko beim Volkstrauertag in bleibender Erinnerung sein.“ Ebenso gab es einen regen kulturellen Austausch. So nahm der Murrhardter Kunstmaler Heiner Lukas mehrfach an der „Repinade“, einem internationalen Künstlertreffen in Tschugujew, der Geburtsstadt des weltberühmten Malers Ilja Jefimowitsch Repin, teil. Aus der Ukraine besuchten junge Pianistinnen die Klavierakademie. Nach Aufkommen der innerukrainischen Spannungen kühlten die Kontakte etwas ab, erläutert Schweizer, zudem starb die damalige Vorsitzende Olga Bovduj. Beim vorläufig letzten Besuch einer Abordnung in Murrhardt gab es einen Austausch mit den Landfrauen und der Sportvereinigung Kirchenkirnberg inklusive Freundschaftsspiel.
Unterstützung Der Verein sammelt Spenden über das Konto
DE45602911200037553003. Mit dem Geld will er geflüchtete Familien aus Tschugujew, die nach Murrhardt kommen, und Projekte in der Ukraine unterstützen. Primär geht es um die Finanzierung der geplanten Medikamentenlieferung an das Krankenhaus in Tschugujew sowie die Geflüchteten. Eine Spendenbescheinigung ist erst dann möglich, wenn das Finanzamt die bis 2021 bestehende Gemeinnützigkeit erneut geprüft hat, informiert Schweizer.