Generation des Übergangs

Titus Simon entwirft in seinem neuen Buch „Wir Gassenkinder“ ein beeindruckendes Panorama seiner Kindheit und Jugend, die von Erwachsenen der beiden Kriegsgenerationen geprägt sind. Gleichzeitig ist schon die Beschleunigung der zweiten Moderne zu spüren.

Die Aufnahme aus den 1960er-Jahren zeigt rechter Hand das Haus in der Fornsbacher Straße 3, das im Leben von Titus Simon eine wichtige Rolle gespielt hat. Heute befindet sich dort das Begegnungscafé. Fotos: Bestand Murrhardter Zeitung, Digitalisierung Andreas Kozlik/J. Fiedler (unten)

Die Aufnahme aus den 1960er-Jahren zeigt rechter Hand das Haus in der Fornsbacher Straße 3, das im Leben von Titus Simon eine wichtige Rolle gespielt hat. Heute befindet sich dort das Begegnungscafé. Fotos: Bestand Murrhardter Zeitung, Digitalisierung Andreas Kozlik/J. Fiedler (unten)

Von Christine Schick

MURRHARDT. „Es ist mein bisher schwierigstes Buch“, sagt Titus Simon. Da sind die zunächst nicht ganz einfachen Umstände, dass der Silberburg-Verlag, bei dem das Manuskript lag, verkauft wurde, und die Frage, wie es weitergeht. Hinzu kam die Tatsache, dass mit der Coronakrise eine Bucherscheinung seltsam still und vorerst ohne die Planung der gewohnten Lesungen vonstattengeht. Orte und Interessenten gebe es genug, nun muss Titus Simon aber abwarten, wie sich das Geschehen für alle und die Veranstalter entwickelt. Nicht zuletzt handelt es sich um ein Buch mit sehr persönlichem Bezug, der bedeutet, sich genau überlegen zu müssen, was wie in den Schilderungen angepackt werden kann. „Wir Gassenkinder. Eine schwäbische Kindheit in den 60er-Jahren“ ist ein beeindruckendes Buch, in dem Titus Simon die Geschichte seiner Familie erzählt, angesiedelt an der Schnittstelle von Oral History und Literatur.

Als emeritierter Hochschulprofessor sagt Titus Simon, dass sein Panorama sich jenseits von Wissenschaft bewege, trotzdem habe er sich um Genauigkeit bemüht, zentrale Eckdaten des Geschilderten oft mehrfach abgesichert und wenn nötig auch in Gesprächen noch mal nachgefragt und nachgehakt. Die Arbeit am Buch hat fünf bis sechs Jahre in Anspruch genommen, wobei Simon auch auf eine ganze Reihe von Interviews zurückgreifen konnte, die er bereits vor längerer Zeit geführt hatte (Quellenangaben finden sich als Anhang im Band). Einzelne Namen hat er zur Wahrung von Persönlichkeitsrechten geändert, nicht so bei der Familie und Persönlichkeiten, deren Vergangenheit bereits von anderer Seite dokumentiert war. „Es ging aber nicht um Bloßstellungen oder darum, jemand zu verletzen“, sagt er.

Das Buch schildert die Wirtschaftswunderjahre in Murrhardt aus der Perspektive des zehn- bis zwölfjährigen Titus Simon. Gereizt hat ihn das Thema auch, weil es zwar zahlreiche Kindheitserinnerungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit und auch derjenigen gibt, die in den 1968ern groß wurden, aber relativ wenige aus den 1960ern. „Wir stehen im Schatten der großen Schicksale“, sagt er und beschreibt seine Generation als eine des Übergangs. Als kleiner Steppke erlebt er Familienangehörige, die sich noch an die Kaiserzeit erinnern und zwei Weltkriege durchlitten und körperliche und seelische Verwundungen davontrugen, genauso wie den folgenden Modernisierungsschub der Gesellschaft, die Freiheit, aber auch die damit verbundene Beschleunigung, die später auch weitere Lebensbereiche umfasst. „Einerseits fuhr der Ochsenkarren durch die Straße, andererseits haben wir das Fernsehen erlebt und mit ihm die erste Mondlandung.“ Ein weiterer Kontrast: der Mythos „Wir sind wieder wer“ und die mehr oder minder gelingende Aufarbeitung von Kriegstraumata der Elterngeneration. Als Kind erspürt er die damit verbundenen Atmosphären und schnappt auf, was die Erwachsenen in dieser Hinsicht thematisieren.

Das Buch ist für ihn aber keine Aufarbeitung im engeren Sinne. In seinem beruflichen Kontext – er hat nach seinem Studium der Rechtswissenschaften, Sozialarbeit, Pädagogik und Journalist unter anderem mit jugendlichen Gewalttätern und in der Wohnungslosenhilfe gearbeitet – bestand die Chance, viel Eigenreflexion zu betreiben und insofern ist die Auseinandersetzung mit der Familie nichts Ungewohntes. Somit ging es nicht um eine beschwerliche Aufgabe, sondern vor allem um Erinnerungsarbeit, sagt er.

Gleichsam haben sich über die Recherchen spannende und auch unerwartete Details der Familiengeschichte ergeben. „Ein Foto hat viel ausgelöst“, erzählt er. Es tauchte im Fundus seiner Mutter auf. Ursprünglich ging Titus Simon davon aus, dass es innerhalb der Familie wenn auch keine Helden, dann doch auch keine besonderen Anhänger von Hitler gegeben hat. Aber besagtes Foto brachte ihn auf die Spur eines entfernten Verwandten, einen Onkel zweiten Grades, Hugo (Hermann) von Senger (1920 bis 2010), der, obwohl er in der Schweiz lebte, als junger Mann noch zur Wehrmacht ging. Er entpuppte sich während der Recherchen als international tätiger Faschist – nach Ende des Zweiten Weltkriegs, erzählt er. „Ich habe ihn als Kind noch erlebt.“

Ein entfernter Verwandter entpuppt sich als international tätiger Faschist.

Im Kapitel „Der Kriegsverbrecher“ setzt sich Titus Simon mit Hugo von Senger auseinander, der als Leutnant der Wehrmacht Offizier des Terek-Kosaken-Reiter-Regiments 6 wurde. „Man setzte die Einheit auf dem Balkan ein, wo sie zahlreiche Kriegsverbrechen beging. Von Senger war an verantwortlicher Stelle beteiligt.“ Bei weiteren Recherchen stößt er auf spanischsprachige Forschungsarbeiten, die im Zuge der Aufarbeitung der Pinochet-Diktatur in Chile entstanden sind. Journalist und Schriftsteller Carlos Basso „belegt unter Offenlegung von Geheimdienstquellen, dass von Senger zu Zeiten der chilenischen Diktatur ein maßgeblicher Mittelsmann einer Conexion chilena gewesen ist, die den Zweck hatte, in Chile eine logistische Basis – Hafen genannt – für deutsche Nazis und Neonazis zu errichten.“

Die Schilderungen in „Wir Gassenkinder“ sind einerseits von dokumentarischer Schärfe, andererseits plastisch und detailreich – und alles andere als verklärend. Dazu gehört auch eine Erwachsenenwelt, in der körperliche Strafe und Gewalt in der Kindererziehung noch ganz selbstverständlich mit dazugehört. Nicht ganz typisch für die Zeit ist, dass sich sein Vater und seine Mutter trennten, was auch dazu führte, dass der jugendliche Titus Simon früh selbstständig wurde und sein eigenes Geld verdiente. Die Beziehung zur Mutter war und blieb schwierig, das Verhältnis zum Vater, den er damals als schwach erlebte, wandelte sich später zu einem positiven, wertschätzenden. Werner Simon hatte als junger Mann mit dem Medizinstudium begonnen, war Sanitäter und kam in dieser Funktion im Krieg zu einer Gebirgsjägereinheit. „Er war auch ein guter Skifahrer.“ Ein Blinddarmdurchbruch rettete ihn vor Stalingrad. Titus Simon geht davon aus, dass die Kriegserlebnisse, vor allem die vielen Notamputationen, tiefe Spuren hinterlassen haben. Nach Gefangenschaft und Rückkehr wurde Werner Simon Lehrer, unterrichtete an der heutigen Schickhardt-Realschule (in den Anfängen noch Mittelschule) Backnang.

Die Lektüre lässt einen tief in ein Murrhardt der 1960er-Jahre eintauchen. „Wir waren auf der Gass, das Leben hat sich draußen abgespielt.“ Das Revier des jungen Titus Simon umfasste die heutige Innenstadt, die Häuser am Oberen Tor, die Franzenklinge, das Bosch-Areal bis hin zum Felsenmeer. Wichtige Anlaufstelle damals war das Haus der Großmutter in der Fornsbacher Straße 3, in dem sich heute das Begegnungscafé befindet. Bei der Rekonstruktion der Erwachsenenwelt halfen ihm auch die Beobachtungen seiner Tanten, insbesondere seiner jüngsten, mit der er drei lange Interviews geführt hat. „Da tauchen unglaublich viele originelle Details auf.“ Es ist eine Welt, die nicht schwarz-weiß, sondern mit vielen Grau- beziehungsweise Zwischentönen geschildert wird. Zudem ist sich Titus Simon bewusst, dass ihm trotz der Schwierigkeiten in der Familie „starke Erwachsene“ geholfen haben und insofern wichtig zur Unterstützung waren. Auch Büchern und Literatur kommt eine zentrale Rolle als Fluchtmöglichkeit und Horizonterweiterung zu.

Die nicht einfachen Startbedingungen wertet Titus Simon so: „Wenn es mich auf die Fresse gehauen hat, dann aber immer die Treppe hoch.“ Damit meint er, dass beispielsweise die Tatsache, früh Geld verdienen zu müssen, für die eigene Weiterentwicklung positiv war, ihn letztlich auch unabhängig und selbstständig gemacht hat. Trotzdem fühlt er sich in gewisser Weise privilegiert: „Ich denke, wir können sehr froh sein, dieser Generation anzugehören, wir sind der Enge entstiegen, haben viel Freiheit gehabt, keinen Krieg erlebt und ökonomisch ging es uns immer besser.“

Nach drei großen Romanen (Trilogie, wir berichteten) und diesem Generationsporträt macht er sich an ein rein fiktives Projekt – einen Roman, der in der Großbaubranche spielt. Will heißen, das Schreiben bleibt weiterhin Passion.

Titus Simon hat rund sechs Jahre am Buch gearbeitet und neue Aspekte zu seiner Familie ausgegraben.

© Jörg Fiedler

Titus Simon hat rund sechs Jahre am Buch gearbeitet und neue Aspekte zu seiner Familie ausgegraben.

Buch und Familienforschung

Titus Simon: Wir Gassenkinder. Eine schwäbische Kindheit in den 60er-Jahren. 288 Seiten, Silberburg-Verlag, Juli 2020, 14,99 Euro, ISBN 978-3-8425-2290-9.

Signierte Exemplare gibt es in den Buchhandlungen Franke in der Hauptstraße 25 sowie BücherABC in der Grabenstraße 23 in Murrhardt.

Im kommenden Semester der Volkshochschule Murrhardt bietet Titus Simon übrigens einen Vortrag rund um die Familienforschung an – „Fornsbacher Straße 3, von Einheimischen und Vertriebenen. Protokoll einer Murrhardter Spurensuche“.

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Erstellt:
31. Juli 2020, 06:00 Uhr

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