Gestrandete Menschen ohne Perspektive

Melanie Burkhardt war als freiwillige Helferin im Flüchtlingslager Mavrovouni auf der griechischen Insel Lesbos. In einem Vortrag auf dem Wacholderhof berichtete sie über die hoffnungslose Situation der Geflüchteten und die schlimmen Lebensumstände im Camp.

Das Flüchtlingslager Mavrovouni: Die Zelte sind direkt am Meer aufgebaut, die Bedingungen für die rund 7000 Menschen, die dort leben, allerdings alles andere als idyllisch. Fotos: privat

Das Flüchtlingslager Mavrovouni: Die Zelte sind direkt am Meer aufgebaut, die Bedingungen für die rund 7000 Menschen, die dort leben, allerdings alles andere als idyllisch. Fotos: privat

Von Annette Hohnerlein

MURRHARDT. Im Frühjahr hat Melanie Burkhardt über vier Wochen auf der Insel Lesbos verbracht, direkt am Meer, in einer kleinen Bucht, umgeben von grünen Hügeln, auf denen Olivenbäume wachsen. Aber mit Urlaub hatte dieser Aufenthalt absolut nichts zu tun. Die 29-Jährige, die in der Erwachsenenbildung für Landwirte arbeitet und sich als Familienmitglied der Burkhardts (Schwiegertochter von Betriebsleiter David Burkhardt) auf dem Wacholderhof engagiert, hat ihren Jahresurlaub dafür verwendet, als Helferin im Flüchtlingslager Mavrovouni zu arbeiten. Was sie dort erlebt hat, an Leid und Hoffnungslosigkeit, aber auch an Offenheit und Gastfreundschaft, hat die junge Frau tief berührt.

Sie war mit der christlichen Organisation „Euro Relief“ dort, eine von mehreren Nichtregierungsorganisationen, die verschiedene Aufgaben im Lager übernehmen: Sie registrieren die Ankömmlinge, weisen ihnen Zelte zu, beraten sie, vermitteln ärztliche Betreuung und verteilen Dinge des täglichen Bedarfs wie Hygieneartikel oder Kleidung. Burkhardt führte teilweise selbst die Erstgespräche mit den Flüchtlingen, die auf überfüllten Schlauchbooten die zehn Kilometer vom türkischen Festland auf die Insel zurückgelegt hatten. „Was sagt man da? ‚Willkommen‘ oder ‚Schön, dass ihr da seid‘?“, fragte sie sich und erzählt erschüttert, in welchem Zustand die Menschen ankamen. „Zusammengekauert, mit hochgezogenen Schultern, total verängstigt. Sie sind immer nur von Station zu Station weitergegeben worden. Keiner hat gefragt, wie es ihnen geht.“ Jeder bekam ein Kleiderpaket, einen Schlafsack und eine Decke ausgehändigt und einen Platz in einem der Zelte zugewiesen.

Es gab 15 Quadratmeter große Zelte, die sich in der Regel zwei Familien teilen mussten. Für die sechs bis zehn Bewohner war der Platz zum Teil so knapp, dass nicht alle gleichzeitig schlafen konnten. Die Singles unter den Flüchtlingen wurden in großen Containern untergebracht. Darin ein Raum neben dem anderen, in jedem standen vier Stockbetten, nichts weiter. Das eigene Bett war für die Bewohner der einzige private Bereich. Es gab einen Duschcontainer, jeder durfte einmal im Monat duschen, für sieben Minuten. Eine Toilette mussten sich 70 Personen teilen. „Nachts geht keiner aufs Klo, das ist zu gefährlich“, sagt Melanie Burkhardt und berichtet von der Kriminalität im Lager, von Drogenhandel über Diebstahl, Mord und Vergewaltigung. Und das, obwohl die griechische Polizei im Lager präsent ist.

Nach außen hin sei das Lager mit einer Mauer und einem Zaun mit Stacheldraht abgeschirmt. „Es ist wie ein Gefängnis“, so Burkhardt, „aber der Zaun schützt auch, das ist vor allem für Frauen wichtig.“ Der Zugang zum Lager ist streng reglementiert und kontrolliert. Jeder Flüchtling hat drei Stunden Ausgang – pro Woche.

Mavrovouni wurde gebaut, nachdem das Lager Moria im September 2020 durch einen Brand zerstört wurde. Betrieben wird es von der UN, unterstützt durch die griechischen Behörden. Von den rund 7000 Bewohnern stellen die Afghanen die größte Gruppe, gefolgt von Kongolesen und Syrern. Burkhardt schätzt, dass etwa 40 Prozent von ihnen Kinder sind. Deshalb gibt es neben Sportangeboten auch eine Schule, in der Englisch unterrichtet wird. Jedes Kind hat Anspruch auf zwei Unterrichtsstunden pro Woche.

Neben der ärztlichen Versorgung benötigen viele Flüchtlinge auch therapeutische Hilfe – theoretisch. In der Praxis herrscht ein Mangel, den eine Kollegin von Melanie Burkhardt so beschrieb: „Wer nicht kurz vor dem Selbstmord steht, dem können wir nicht helfen.“ Der Alltag der Lagerbewohner bestehe zu einem großen Teil aus Warten, erzählt Burkhardt. Anstehen für das Flüchtlingsgeld, für Essen und Getränke, beim Arzt, vor der Bank. Und alle warten entweder auf das Gespräch mit den Behörden, das über ihren Asylantrag entscheidet, oder danach auf den Bescheid, ob er anerkannt ist oder nicht.

Melanie Burkhardt hat auf Lesbos viele traurige Geschichten gehört, aber sie erzählt auch von schönen Begegnungen: „Die Leute sind offen und interessiert, wir haben uns ausgetauscht, obwohl wir aus zwei unterschiedlichen Welten kommen. Ich wurde immer wieder zum Tee oder zum Essen eingeladen.“

An die Politik richtet sie heftige Vorwürfe. „Es ist der politische Wille in der EU, den Menschen nicht zu helfen, damit nicht noch mehr kommen. Und wir sind alle EU-Wähler, wir haben mit Schuld.“ Ihren Vortrag schließt Melanie Burkhardt mit einem resignierten Statement: „Was konnte ich den Menschen dort geben? Am eigentlichen Problem, der Perspektivlosigkeit, kann ich nichts ändern. Ich bin hilflos. Mit diesem Gefühl bin ich zurückgekommen.“

Melanie Burkhardt (Mitte) mit ihren Kolleginnen Amy und Lou-Anne (v.l.) aus den USA, die ebenfalls als Freiwillige im Camp gearbeitet haben.

© CEWE FOTOSCHAU

Melanie Burkhardt (Mitte) mit ihren Kolleginnen Amy und Lou-Anne (v.l.) aus den USA, die ebenfalls als Freiwillige im Camp gearbeitet haben.

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Erstellt:
30. Juni 2021, 06:00 Uhr

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