Licht und Schatten von Hochsensibilität

Karin Lorenz zeichnet bei der Volkshochschule Murrhardt ein Bild davon, was es heißt mit einer besonderen Feinfühligkeit zu leben. Betroffene können auf körperlicher und sozialer Ebene Vorkehrungen treffen, um sich zu schützen, sich aber auch die Intensität des Erlebens bewusst machen.

Karin Lorenz weiß, dass auf Hochsensible eine große Vielfalt an Eindrücken einprasselt und sie sich, um dies einigermaßen zu verarbeiten, oft zurückziehen. Foto: Stefan Bossow

© Stefan Bossow

Karin Lorenz weiß, dass auf Hochsensible eine große Vielfalt an Eindrücken einprasselt und sie sich, um dies einigermaßen zu verarbeiten, oft zurückziehen. Foto: Stefan Bossow

Von Petra Neumann

Murrhardt. Ein Leben mit feinfühliger Wahrnehmung und intensiven Emotionen, verbunden mit Zweifeln an sich selbst und dem Drang, sich von der Welt zurückzuziehen: Das sind Zustände, die hochsensible Menschen wie Karin Lorenz ständig erfahren. Vor diesem Hintergrund hielt sie im Zimmertheater der Volkshochschule Murrhardt einen Vortrag über „Hochsensibilität – Leben mit Dünnhäutigkeit und Reizüberflutung“.

Obwohl dieses Wesensmerkmal erst in den letzten Jahren stärker in die Wahrnehmung gerückt ist, ist es bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts von einzelnen Wissenschaftlern, unter anderem C.G. Jung, erkannt und untersucht worden, erläutert Karin Lorenz. Doch es war die amerikanische Psychologin Elaine A. Aron, die diesen Begriff in den 1990er-Jahren geprägt hat und damit nicht nur das Fundament zu weiteren wissenschaftlichen Studien gelegt, sondern das Thema auch stärker in die Öffentlichkeit getragen hat.

Zehn bis 20 Prozent sind betroffen

Untersuchungen haben ergeben, dass bestimmte Gehirnareale Betroffener aktiver sind und zu mehr Empathie, mehr Sinn für Gerechtigkeit, aber auch zu mehr Angst führen, so Karin Lorenz. „Man geht davon aus, dass zirka zehn bis 20 Prozent der Menschen Merkmale der Hochsensibilität aufweisen und zwar meist von Geburt an. Allerdings können auch Traumata zu dieser extremen Feinfühligkeit führen“, sagt sie.

Meist sind es eher stille und schüchterne Kinder, die sich auch nicht allzu viel zutrauen und zum Einzelgängertum neigen. Es sind keine Draufgänger, sondern dünnhäutige und zartbesaitete Naturen. Dadurch verändert sich auch die Chemie im Körper. „Der Herzschlag und der Cortisolspiegel sind durch die ständige Reizüberflutung erhöht, weswegen der Ausgleich im Rückzug gesucht wird, um ebendiese Vielfalt an Eindrücken einigermaßen verarbeiten zu können“, unterstrich die Vortragende. Die erhöhte Empfindsamkeit führe ebenfalls dazu, dass man schneller seelisch verletzt ist und diese Verletzungen auch nicht wirklich vergessen könne. So befinden sich die Hochsensiblen oft in einem ständigen Kampf-oder-Flucht-Modus.

Überhaupt wird alles sehr intensiv wahrgenommen, was natürlich nicht nur Nachteile hat, sondern eben auch zu einem intensiveren Erleben führen kann und einem Dinge vermittelt, die anderen kaum mehr auffallen. Blumen, Lichtverhältnisse, Sonnenauf- oder -untergänge sind nur ein paar wenige Beispiele. Es ist zwar kein mikroskopischer Blick, den Hochsensible haben, aber ein bewussterer.

Weniger bewusst sind den Betroffenen die Ursachen ihres Soseins und darüber aufzuklären liegt der Referentin sehr am Herzen: „Ich hoffe, dass ich mit diesem Vortrag helfen kann.“ Aus eigener Erfahrung weiß sie, dass man mit dieser Grundkonstellation leben lernen kann. Aber dazu gehöre eben auch, dass man sich mit dem neuesten Stand der Forschung auseinandersetzt und an sich arbeitet. Karin Lorenz thematisiert auch mögliche negative Folgen: Nicht wenige fliehen in eine irreale Traumwelt, laufen Gefahr, sich an den Alkohol oder an Drogen zu verlieren und so am Leben zu scheitern. Andere überladen sich mit Arbeit, die gleichsam die Funktion eines schützenden Panzers haben soll.

Besser sei es, so Karin Lorenz, sich Hilfsmitteln wie Mediation, Kontemplation und Waldspaziergängen zuzuwenden. Der Cortisolspiegel lässt sich unter anderem mit Kamillen- oder Lindenblütentee sowie grünem Tee senken. Allerdings muss auch am eigenen Rüstzeug in Bezug auf das soziale Leben gefeilt werden. Da übersensible Menschen die Tendenz haben, sich gleichsam in anderen aufzulösen, müssen sie lernen, sich abzugrenzen, Nein zu sagen und auf sich zu hören.

Aber woran lässt sich Hochsensibilität überhaupt erkennen? Für die Referentin können folgende Punkte Hinweise sein: Kritik ist schwer zu verarbeiten, es bestehen (große) Selbstzweifel, da man alles auf sich bezieht, hohe Geräusch- und Geruchsempfindlichkeit, Hang zu Perfektionismus, Angst vor Neuem oder Spontanem, Konzentrationsmangel, verminderte Motivation, wenig Durchhaltevermögen und das starke Bedürfnis, sich zurückzuziehen. Andererseits sind für sie mit Hochsensibilität auch verbunden: tiefgehende Gedanken, hohe Empathie, Kreativität, Ernsthaftigkeit, Ehrlichkeit und ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn.

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Erstellt:
26. September 2023, 06:00 Uhr

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