Mut zur Geschichte und Begegnung

Beim deutsch-polnischen Schüleraustausch haben junge Menschen aus der Walterichstadt und Murrhardts Partnerstadt Rabka-Zdrój knapp eine Woche in der internationalen Jugendbegegnungsstätte in Kreisau verbracht. Vier Gymnasiasten berichten von ihren Eindrücken.

Die Schülerinnen und Schüler aus Murrhardt und Rabka-Zdrój vor den Installationen der Ausstellung „Mut und Versöhnung“ auf dem Gelände der Gedenkstätte in Kreisau. Foto: privat

Die Schülerinnen und Schüler aus Murrhardt und Rabka-Zdrój vor den Installationen der Ausstellung „Mut und Versöhnung“ auf dem Gelände der Gedenkstätte in Kreisau. Foto: privat

Von Christine Schick

Murrhardt. Keine Frage, die Schülerinnen und Schüler auch am Heinrich-von-Zügel-Gymnasium Murrhardt sind nach drei Jahren Corona hungrig auf Gemeinschaftserlebnisse und haben viel Lust auf Reisen. Das Angebot, im Frühjahr beim deutsch-polnischen Schüleraustausch dabei zu sein und fünf Tage in der internationalen Jugendbegegnungsstätte in Kreisau zu verbringen, ist allerdings nicht ohne eine gehörige Portion Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und Vergangenheitsbewältigung zu haben, auch wenn Gegenwart und Zukunft im Sinne der europäischen Begegnung ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Julia Cvitkovic, Lilly Braun, Julian Däullary und Rayan Albaida aus den beiden neunten Klassen bereuen es aber keinesfalls, sich auf den Weg gemacht zu haben, mehr noch sie empfehlen ihre Studienreise auch ausdrücklich weiter.

Interesse an Historie und Menschen

„Es ist nicht nur eine Spaßfahrt, insofern handhaben wir das so, dass sich die Schülerinnen und Schüler bewerben müssen“, berichtet Lehrerin Peggy Bauer. Sie und ihre Kollegin Tanja Buchholz haben die 25 Jugendlichen begleitet. Was waren die entscheidenden Punkte bei der Bewerbung? Julia Cvitkovic war noch nie in Polen und gespannt auf die Sprache – über ihren familiären Hintergrund ist sie mit dem Kroatischen vertraut. „Ich hab relativ viel verstanden“, erzählt sie und dass sie mehr über die polnische Partnerstadt erfahren wollte, auch im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg und den Flüchtlingen, die nach Rabka-Zdrój kamen und für die die Schule Hilfsaktionen organisiert hat. Ein Thema, das auch Julian Däullary wichtig war. Außerdem erinnert er sich noch an Erzählungen seiner Großmutter, die von Flüchtlingen beziehungsweise Fluchtbewegungen während des Zweiten Weltkriegs berichtet hat. „Ich interessiere mich sehr für Geschichte“, sagt Lilly Braun. Ihr ist es wichtig, mehr über das Damals zu erfahren, um das Heute besser zu verstehen. Für Rayan Albaida gehört Geschichte ebenfalls zu den spannenden Fächern. Flucht hat für ihn einen ganz persönlichen Hintergrund: Er kam vor sieben Jahren aus Syrien nach Deutschland und Murrhardt. Der Neuntklässler wollte zudem gern die polnischen Mitschüler kennenlernen.

In Kreisau trafen die vier und ihre Mitschülerinnen und Mitschüler auf 26 Jugendliche und ihre drei Lehrerinnen aus der polnischen Partnerstadt Rabka-Zdrój. Sie haben auf Englisch miteinander gesprochen, außerdem haben die polnischen Jugendlichen seit drei Jahren Deutschunterricht. Um auch mal ein paar Dinge sagen, sich bedanken oder begrüßen zu können, gab es außerdem einen kleinen selbst organisierten Crashkurs in Polnisch.

Das Miteinander war zudem professionell begleitet. Neben den fünf Lehrerinnen haben auch zwei Pädagogen in der Jugendbegegnungsstätte die Tage mit vielseitigen Angeboten und Programmpunkten gestaltet. So hat sich nach den Schilderungen der Jugendlichen das gegenseitige Kennenlernen mit den Eindrücken vor Ort und der mit ihnen verbundenen deutsch-polnischen Geschichte immer wieder abgewechselt. Dazu muss man wissen, dass sich die internationale Begegnungsstätte in Kreisau auf dem einstigen Gut von Helmuth James Graf von Moltke befindet, der während des Dritten Reichs die Widerstandsgruppe Kreisauer Kreis mitgegründet hat. Auf dem Anwesen fanden die Treffen der Mitglieder statt. Peggy Bauer und Tanja Buchholz erzählen, dass diese anders als die Gruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg kein Attentat planten, sondern sich vor allem damit beschäftigten, wie es nach der Diktatur für das Land weitergehen konnte und sollte. Dass ein Verwandter Stauffenbergs Mitglied im Kreisauer Kreis war, wurde der 20-köpfigen Gruppe im Zusammenhang mit dem Hitler-Attentat zum Verhängnis. „Neun Mitglieder wurden verhaftet, acht getötet“, sagt Peggy Bauer. Tanja Buchholz ergänzt, dass Augustin Rösch als einziger überlebt hat.

Geheime Treffen auf dem Anwesen

Die Jugendlichen haben auf dem Anwesen nicht nur übernachtet und viel Zeit miteinander verbracht, sondern sind auch über Ausstellungen und Führungen in die Vergangenheit eingetaucht. Beeindruckt hat sie beispielsweise das Berghaus – der geheime Treffpunkt der Gruppe. „Dort ist ein Tisch, der in vier Teilen zu einem Rund zusammengestellt wird“, erzählt Julia Cvitkovic. Er steht unter anderem symbolisch für die verschiedenen Gruppen, die dort zusammengefunden haben – Adlige und Bürger genauso wie Protestanten und Katholiken. „Es ist was ganz anderes, das vor Ort zu sehen, viel spannender als es sich über Bücher zu erarbeiten“, sagt sie. Lilly Braun ergänzt: Es gehe letztlich auch darum, dass sich die Verbrechen und Diktatur nicht noch einmal wiederholen. Besonders intensiv haben sich die polnischen und deutschen Jugendlichen auf ihren Besuch der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Groß-Rosen vorbereitet. Die vier erzählen von dem Steinbruch auf dem Gelände, in dem sich die Gefangenen totgearbeitet haben. „Manche haben sich auch vorher das Leben genommen, sind von der Kante rund 80 Meter in die Tiefe gesprungen“, sagt Julian Däullary. Sich vorzustellen, nun über denselben Weg, über dieselben Kieselsteine zu gehen wie die damaligen Häftlinge, berührt Peggy Bauer immer noch – ob dort oder im KZ Dachau. Die Zeitzeugenberichte, die Teil der Ausstellung sind, waren für die Jugendlichen sehr eindrücklich: Wer als Insasse zwei Wochen überlebte, war ein sogenannter guter Häftling. Manchmal fielen die Menschen auch der unvorhersehbaren Willkür zum Opfer, wurden einfach erschossen oder die Hunde wurden auf sie gehetzt, erzählen die Jugendlichen. Julia Cvitkovic berichtet von der Inschrift eines Gedenksteins, die sie besonders bewegt hat, in der ein Vater an seine Tochter erinnert („Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an dich denke“).

Auseinandersetzung mit Vorurteilen

Auch wenn die Vergangenheit einen wichtigen Part eingenommen hat, hatten die Jugendlichen genauso Gelegenheit, nach vorne zu blicken. Auf dem Gelände der Begegnungsstätte befasst sich eine Freilichtausstellung mit den Themen Mut und Versöhnung und lenkt den Blick auf die gemeinsame europäische Gegenwart und Zukunft. Auch das gegenseitige Kennenlernen hat dabei seinen Stellenwert. Die Jugendlichen haben sich beispielsweise mit den jeweiligen Vorurteilen gegenüber dem jeweils anderen Land auseinandergesetzt, aber auch einfach Spaß miteinander gehabt – bei Spielen, Tanz- und Sportabenden. Und auch das wollen sie keinesfalls missen.

Reise und Aufenthalt werden vom deutsch-polnischen Jugendwerk, Land und von der Stadt Murrhardt gefördert

Austausch Der deutsch-polnische Schüleraustausch, bei dem Neuntklässler des Heinrich-von-Zügel-Gymnasiums und Schülerinnen und Schüler der Partnerstadt Rabka-Zdrój fünf Tage in der internationalen Jugendbegegnungsstätte in Kreisau verbringen, gibt es schon viele Jahre. Wegen Corona wurden die Fahrten aber in den vergangenen beiden Jahren ausgesetzt. Der Austausch wird vom deutsch-polnischen Jugendwerk, dem Regierungspräsidium Stuttgart und der Stadt Murrhardt finanziell unterstützt. Dadurch verringert sich der Eigenkostenanteil der Jugendlichen im Vergleich zu anderen Fahrten wie einem Londonbesuch.

Intension Ziele sind unter anderem das Kennenlernen der anderen Kultur, Vermittlung des europäischen Gedankens, die Beschäftigung mit der deutsch-polnischen Geschichte, Verbesserung der Englischsprachkenntnisse und die Förderung von Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein.

Berichte Die Schülerinnen und Schüler haben die Tage in Berichten dokumentiert und aufgearbeitet. Zur Ausstellung „Mut und Versöhnung“ auf dem Gelände beschreiben sie, wie sie sich in Kleingruppen mit der deutsch-polnischen Geschichte (1933 bis 1989) befasst haben. Zum Abschluss sollten sich die Jugendlichen positionieren und zwar an dem Skulpturteil in Form eines aufgesplitteten Tisches mit den Aufschriften Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und Mut, um zu zeigen, welcher Begriff ihnen am wichtigsten ist. „Schlussendlich stellten wir fest, dass alle Teile wichtig sind, denn man benötigt die Vergangenheit, um in der Gegenwart mit Mut die Zukunft zu gestalten“, so das Fazit.

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Erstellt:
17. Mai 2023, 06:00 Uhr

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