Missbrauch in Tübinger Psychiatrie?
Angeklagter sah sich als Freund seiner Patientin – und nicht mehr als Therapeut
Der gekündigte Arzt der Uniklinik Tübingen schildert im Berufungsprozess das Verhältnis zu seiner Patientin aus seiner Sicht. Dann stellt die Richterin eine entscheidende Frage.

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Die Psychiatrie der Uniklinik Tübingen, die sich von dem in erster Instanz verurteilten Arzt trennte.
Von Florian Dürr
Als am Freitagvormittag der Stuhl des Angeklagten noch leer bleibt, steht die Richterin höchstpersönlich auf und schaut selbst nach, ob sie den 63-Jährigen im Gebäude des Landgerichts Tübingen findet. Es dauert nicht lange, dann betritt ein Mann mit Sonnenbrille und FFP2-Maske den Saal 107. Es ist der bereits in erster Instanz zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilte Arzt, der zum ersten Verhandlungstermin des Berufungsprozesses wegen einer „akuten suizidalen Krise“ nicht erschienen war.
Ziel des Angeklagten vor dem Landgericht: Bewährungsstrafe statt Gefängnis
An diesem Freitag aber ist er anwesend, doch seine Verteidigerin macht klar: „Es geht ihm nicht besonders gut, aber er will die Sache zum Abschluss bringen“, sagt sie – für sich selbst und für seine ehemalige Patientin, die er zwischen Oktober 2020 und Juni 2021 in 53 Fällen unter Ausnutzung seines psychotherapeutisches Behandlungsverhältnisses missbraucht haben soll.
Das Urteil des Amtsgerichts Tübingen ist nicht rechtskräftig, weil beide Seiten Berufung eingelegt haben. Das Ziel des Angeklagten vor dem Landgericht: eine Bewährungsstrafe statt einer Haftstrafe, erklärt die Verteidigerin. Der Anwalt der Patientin strebt eine Verurteilung wegen Vergewaltigung an.
63-jähriger Arzt: „Habe mich gar nicht mehr als Psychotherapeut gesehen“
Der 63-jährige Arzt hat mehrere beschriebene DIN-A4-Seiten mitgebracht. „Er wird seine Einlassung ablesen“, erklärt die Verteidigerin. Der Mann mit Brille und Bart liest ruhig und flüssig vor, seine ehemalige Patientin ist inzwischen nicht mehr im Saal, sie war nur in den ersten Minuten der Verhandlung anwesend.
Mit einer Entschuldigung beginnt der 63-Jährige seine Schilderung der Vorkommnisse: „Es tut mir leid, dass ich das professionelle Verhältnis verlassen habe“, sagt er. Er habe sich mehr als Privatkontakt und Freund seiner Patientin gesehen. Der „menschliche und persönliche Kontakt“ habe so im Fokus gestanden, „dass ich mich gar nicht mehr als Psychotherapeut sah“, sagt er. Und: „Ich hätte alles für sie getan.“ Selbstüberschätzend habe er gedacht, er sei „der einzige und letzte Mensch, der ihr helfen konnte“.
An einem Oktoberabend 2020 soll es zu der Vergewaltigung gekommen sein
Wie viele sexuelle Handlungen es zwischen ihm und seiner Patientin – sowohl in seinem Behandlungszimmer in der Psychiatrie als auch in seiner Privatwohnung – gegeben habe, habe er nicht gezählt. „Wie es dazu kommen konnte, versuche ich mit Therapeuten herauszufinden“, liest der 63-Jährige vor und stellt klar: „Ich habe ihr zu keiner Zeit Gewalt angetan.“
Zum Zeitpunkt jenes Oktoberabends im Jahr 2020, an dem es laut der Patientin zu der Vergewaltigung gekommen sein soll, sei klar gewesen „dass wir uns privat treffen und keine Therapie stattfindet“, sagt der Angeklagte. Zu diesem Punkt hakt später Richterin Hörmann nach: „Das Behandlungsverhältnis bestand fort?“, fragt sie. „Ja, das wird eingeräumt“, antwortet die Verteidigerin.
Patientin lässt Geschlechtsverkehr über sich ergehen
Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft werden. Als Zeugin kommt am Freitag die Kriminaloberkommissarin zu Wort, die in dem Fall ermittelt hat. Sie berichtet von der Vernehmung der Patientin, die währenddessen mehrmals geweint habe. Man habe deutlich gemerkt, dass sie unter den Vorkommnissen leide. An jenem Oktoberabend 2020 habe sie mehrfach signalisiert, dass sie keinen sexuellen Kontakt möchte – und dennoch sei es zum Geschlechtsverkehr gekommen. Irgendwann habe sie es einfach über sich ergehen lassen. Sie wollte ihn als Therapeuten nicht verlieren.