Zeugnis der Kultur- und Sozialgeschichte

Ein wohl jahrhundertealter Tontopf ist nicht wie meist bei Erdarbeiten aufgetaucht, sondern wurde über Generationen immer weitergegeben. Die Murrhardter Familie Rössle vermacht ihn nun dem Carl-Schweizer-Museum. An dem Stück lässt sich auch frühe Handwerkstechnik ablesen.

Anneliese Rössle hat das gute Stück an Christian Schweizer übergeben. Im Carl-Schweizer-Museum können nun Besucher den Tontopf besichtigen und die mit ihm verbundene Geschichte nachvollziehen. Foto: E. Klaper

Anneliese Rössle hat das gute Stück an Christian Schweizer übergeben. Im Carl-Schweizer-Museum können nun Besucher den Tontopf besichtigen und die mit ihm verbundene Geschichte nachvollziehen. Foto: E. Klaper

Von Elisabeth Klaper

Murrhardt. Das Haus für Natur und Geschichte ist um eine Attraktion reicher: einen jahrhundertealten Tontopf, dessen Materialwert zwar gering, der historische Wert aber umso höher ist. Ein einfacher, aber unentbehrlicher Gebrauchsgegenstand, der seit vielen Generationen im Gebrauch war. Er ist nach Einschätzung von Museumsleiter Christian Schweizer wahrscheinlich in der Walterichstadt von Hafnern, sprich Töpfern, gefertigt worden. Der etwa 25 Zentimeter hohe Topf mit konischer, sich nach oben verbreiternder Form hat am Boden einen Durchmesser von etwa acht, weiter oben von etwa 25 Zentimetern.

Der Topf ist eine Spende von Anneliese Rössle aus dem Nachlass von Frieda Rössle, der Großmutter ihres verstorbenen Mannes Heinrich Rössle, und befand sich in deren Wohnung in der Gartenstraße außerhalb der Stadtmauer. Christian Schweizer nimmt an, dass man ihn als Kochgeschirr benutzte, worauf Spuren von Ruß und Feuer hindeuten könnten. Der Heimatgeschichtsforscher hält es aber auch für möglich, dass der Topf bei einem Schadfeuer gesprungen ist: entweder als ein Haus brannte oder während des Stadtbrands 1765. Nach der Beschädigung hat man ihn kunstfertig mit Draht umflochten und mit einem speziellen Klebstoff abgedichtet, um ihn weiter benutzen zu können.

Beim Anblick dieses unscheinbaren, offensichtlich uralten Tontopfs mit einem geflickten Sprung und beschädigtem Rand denkt man zunächst nicht daran, dass sich hinter diesem Haushaltsgegenstand eine jahrhundertealte Kulturgeschichte verbirgt, zumal nicht mit europäischem Hintergrund. „Not macht erfinderisch“, so hört und liest man immer wieder. Armut und Reichtum gehören zur Kulturgeschichte der Region ebenso wie ganz Europas. Heutzutage, in einer Zeit des fast grenzenlosen Konsums, von Wegwerfgesellschaft und Kunststoffartikeln haben die Menschen kaum mehr einen Bezug zu solch einem Gefäß, einem Behältnis, das entweder für die Zubereitung oder die Bevorratung von Lebensmitteln diente. Doch in früheren Epochen war dies völlig anders. Dies belegt dieses neue, besondere Exponat, das jüngst die Murrhardter Familie Rössle als Sachspende ans Carl-Schweizer-Museum übergeben hat. Der Topf stamme aus altem Murrhardter Familienbesitz, erzählt Anneliese Rössle, die nach Rücksprache mit ihrer Familie den Tontopf dieser Tage ins Museum brachte. Der Topf kann seine reiche Geschichte jedoch erst nach etwas intensiveren Recherchen erzählen. Heimatgeschichtsexperte Rolf Schweizer zeigte sich zugleich überrascht und verwundert über das hohe Alter des Stücks, das für Fachleute an der Form und am Randprofil bestimmbar ist.

Demnach stammt der Topf aus der Epoche vom Ende des 16. bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts, sprich aus der Zeit um den Dreißigjährigen Krieg, somit weit über 100 Jahre vor dem Murrhardter Stadtbrand am 24. August 1765. Der Topf ist kein Bodenfund, sondern überstand all die Jahrhunderte in den Häusern der Walterichstadt und ging durch die Hände vieler Generationen. Es ist der Aufmerksamkeit von Anneliese Rössle zu verdanken, dass das historische Gefäß nicht bei einer Haushaltsauflösung in den Müll wanderte, sondern jetzt nach Jahren ins Carl-Schweizer-Museum kam. Der Topf weist deutlich sichtbare Rußspuren auf, die von einer Nutzung an der offenen Feuerstelle zeugen, ebenso deutlich zu sehen ist auch der beschädigte Rand, was aber die Nutzung nicht beeinträchtigte. Anneliese Rössle erzählt, dass der Topf aus dem Vorbesitz der Vorfahren der Familie Rössle stammt, vielleicht aber auch aus einer familiären Verbindung zur Familie Zügel, den Vorfahren des Kunstmalers Heinrich von Zügel. „Mitglieder der Familie Rössle sind als Hafner seit mehreren Generationen in Murrhardt bezeugt und die Zügels als eine der ältesten Familien unserer Stadt bekannt, beide also seit Jahrhunderten und damit seit weit vor dem Stadtbrand hier ansässig“, erläutert Museumsleiter Christian Schweizer.

Irgendwann bekam der Topf einen Sprung: Heute würde man ein solch beschädigtes Geschirr wahrscheinlich entsorgen, früher aber war das unter Umständen gar keine Option, da der Ersatz je nach sozialer Lage zu teuer war. Wenn nur der Tontopf erzählen könnte: Der Heimatgeschichtsforscher hält es auch für möglich, dass die Rußspuren gar nicht vom Gebrauch, sondern von einem Brand stammen. Vielleicht hatte man den Topf aus dem Schutt eines ausgebrannten Hauses geborgen? Jedenfalls ist das ihn umgebende, kunstvoll gewirkte Drahtnetz nicht geschwärzt. Der gesprungene Topf wurde meisterhaft von einem stabilisierenden Drahtgeflecht umgeben und der Sprung mit einem kleinen Metallstück und hitzebeständigem Klebstoff – vermutlich Harz – abgedichtet, sodass das Gefäß weiter benutzt werden konnte.

Das Drahtgeflecht ist ein Hinweis auf ein bedeutendes Detail der europäischen Kultur- und Sozialgeschichte. Denn laut Christian Schweizer berichteten unsere Vorfahren von umherziehenden, armen Wanderarbeitern. Neben Scherenschleifern und Händlern, die allerlei Kleinartikel feilboten, gab es auch Fachleute, die die lebenswichtigen Küchengeschirre wieder reparierten, wenn sie beschädigt waren. Dazu zählten die Kesselflicker, aber auch die im Volksmund sogenannten Schlawaken (Slowaken) und Rastelbinder, abgeleitet vom Fachbegriff für Geflecht. Diese spezielle Handwerkstechnik der Drahtbinderei zur Reparatur von Ton- oder Glasgefäßen wurde im 16. Jahrhundert in der Slowakei und Ungarn erfunden.

Deren Ursprung liegt in der Gegend von Žilina, deutsch Sillein, im Gebiet des Flusses Waag, unweit der Grenzen zu Tschechien und Polen in einem ärmlichen, gebirgigen Gebiet im Nordwesten der Slowakei. Diese Drahtbinder entwickelten sich zu einem eigenen Handwerkerstand, der speziell bei den armen Hausständen auf dem Land gefragt war, da man sich nicht so einfach wieder einen Tontopf beim Hafner besorgen konnte. Ein zerbrochener Krug wurde von den „Drotarn“, den Drahtern, abgeleitet vom slawischen und auch süddeutschen Wort „Drot“ für Draht, kunstvoll zur Sicherung mit einem Drahtgeflecht umwirkt und zusätzlich mit einem wohl wasser- und hitzefesten Klebstoff, vermutlich einem Harz, zusammengefügt. Bis ins 19. Jahrhundert stellten diese Wanderarbeiter diverse Haushaltsartikel her, darunter auch Schöpfkellen und Siebe. Die Drahtbinder waren aber als Hausierer und fahrendes Volk unbeliebt, und das Handwerk lohnte sich mit der aufkommenden Industrialisierung, besseren Werkstoffen und dem allgemeinen sozialen Aufschwung nicht mehr. So starb dieser Beruf schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg vollends aus. Der Topf zeugt also von einer reichen Kultur- und Sozialgeschichte und Lebenseinstellung, deren wahrer Wert sich nicht bei der Fernsehtrödelshow „Bares für Rares“ versilbern, aber im Carl-Schweizer-Museum Besuchern und künftigen Generationen vermitteln lässt. Und die Moral von der Geschicht’: Die als sparsam bekannten Schwaben werfen nichts weg, und ein nachhaltiges, auf Langlebigkeit ausgerichtetes Wirtschaften schont Ressourcen und die Natur.

Diese spezielle Handwerkstechnik der Drahtbinderei zur Reparatur von Ton- oder Glasgefäßen wurde im 16. Jahrhundert in der Slowakei und Ungarn erfunden.
Sonderführung Pilgerstaffel

Sonderführung Nach der Einweihung der Murrhardter Pilgerstaffel am Sonntag, 10.Oktober, 11 Uhr schließt sich nachmittags, 14.30 Uhr eine Führung mit Christian Schweizer an (kostenlos, Spende erwünscht). Start: Carl-Schweizer-Museum.

Geschichtstreff Der Murrhardter Geschichtsverein und das Museum laden am Freitag, 22. Oktober, 17 Uhr zu einem Treffen ein. Die neu gestaltete Erweiterung der stadtgeschichtlichen Sammlung wird zum Anlass genommen, um zu folgenden Fragen ins Gespräch zu kommen: Welche Themen werden im Museum behandelt? Was steht an Exponaten zur Verfügung? Wie können komplexe Themen wie Nationalsozialismus und Widerstand ausgestellt werden?

Stadtführung Am Sonntag, 24. Oktober, 15Uhr läuft eine Stadtführung „Murrhardt kennen lernen“ , Treffpunkt Rathaus.

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Erstellt:
7. Oktober 2021, 06:00 Uhr

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