„Es regt sich immer mehr Widerstand“

Das Interview: Rosemarie Henkel-Rieger und Jörg Rieger kämpfen für eine solidarische Arbeits- und Lebenswelt

Rosemarie Henkel-Rieger und Jörg Rieger, die in Murrhardt aufgewachsen und später in die USA gegangen sind, befassen sich dort beide beruflich mit einem Thema, das sich gefühlt gegen den Weltenlauf auflehnt: Ihnen geht es um nichts Geringeres als eine Umgestaltung der Arbeitswelt, wie sie der neoliberale Kapitalismus geschaffen hat. Dabei greifen sie auf gewerkschaftliche genauso wie religiöse Ansätze zurück. In ihrem aktuellen Buch „Gemeinsam sind wir stärker“, das sie Dienstag in Murrhardt vorstellen, entwickeln sie dies im Detail. Wir stellten ihnen dazu ein paar Fragen.

Jörg Rieger und Rosemarie Henkel-Rieger sind bald in Murrhardt zu Gast. Teil ihres Besuchs ist auch die Vorstellung ihres aktuellen, gemeinsamen Buchs. Foto: privat

Jörg Rieger und Rosemarie Henkel-Rieger sind bald in Murrhardt zu Gast. Teil ihres Besuchs ist auch die Vorstellung ihres aktuellen, gemeinsamen Buchs. Foto: privat

Von Christine Schick

Wie sind Sie auf das Thema Arbeit, Solidarität und Glauben sowie die besonderen Leerstellen in der heutigen Diskussion gestoßen? Gab es einen entscheidenden, besonderen Anlass?

Wir haben uns seit vielen Jahren für sozial benachteiligte Menschen engagiert und früh gelernt, dass Wohltätigkeit nicht ausreicht. Dabei haben wir gemerkt, wie viel eigentlich von Fragen der Arbeit abhängt: Ethnische Minderheiten, Asylanten und viele Frauen sind oft in ihrer jeweiligen Arbeit stark benachteiligt. Wenn es ihnen gelingt, gerade diese Benachteiligungen abzubauen, sind wir alle ein großes Stück weiter. Das gilt auch für Fragen des Rassismus und Sexismus. Im religiösen Bereich gibt es interessante Parallelen, die oft vergessen werden, aber viele der jüdischen, christlichen und auch die muslimischen Traditionen sind an Gerechtigkeit interessiert und sie wissen, dass die Letzten die Ersten sein können und umgekehrt.

Wenn ich es richtig verstanden habe, ist es Ihnen wichtig, sich mit der Arbeit und ihrem Charakter im Sinne von Selbst- versus Fremdbestimmtheit, Konkurrenz versus Solidarität zu befassen, weil sie alle anderen Lebensbereiche prägt. Wer kann Ihrer Erfahrung nach heute so arbeiten, dass gutes Auskommen, tendenziell sinnvolle Arbeit und Solidarität gefördert wird?

Immer weniger Leute haben die Möglichkeit, sich aktiv am Arbeitsprozess zu beteiligen und Einfluss auf ihre Arbeit auszuüben. Das gilt auch für Berufe in der Mittelklasse. Deshalb finden wir es wichtig, dass sich Menschen sozial organisieren, auch gewerkschaftlich. Unser neues Projekt beschäftigt sich vor allem mit Minderheiten und Frauen und deren Mitbestimmung bei der Arbeit. Eine Lösung, die wir vertreten, hat mit der Gründung von kooperativen Betrieben oder Genossenschaften zu tun, in denen alle Beteiligten über Arbeitsbedingungen und Verteilung der Profite bestimmen.

Wie viel Karl Marx steckt in Ihren Überlegungen?

Viele von unseren Ansätzen stammen aus der Praxis. Man braucht nicht unbedingt Karl Marx zu lesen, um zu verstehen, dass Ausbeutung existiert und eines der großen Probleme unserer Zeit darstellt. Das gilt nicht nur in der sogenannten Dritten Welt, sondern auch in den USA und in Europa. Trotzdem stellen wir immer wieder fest, dass man auch von älteren Traditionen manches lernen kann, und da gehört sicherlich auch Marx dazu, und natürlich auch gewisse progressive religiöse Einsichten.

Zukunftsforscher prognostizieren, dass mit der technischen Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten viele Berufe von Computern ersetzt werden. Heißt das, dass uns die eigentliche Konkurrenzschlacht erst noch bevorsteht, sich die Lage noch viel mehr zuspitzen wird?

Wir gehen davon aus, dass sich die Dinge eher noch verschärfen werden. Es kommt jedoch zum großen Teil darauf an, wer bestimmt, wie Computer und andere Automatisierungen eingesetzt werden. Wenn hier demokratisch bestimmt werden kann, würde die Zukunft für alle besser aussehen.

Und was bedeutet das für Ihren Ansatz?

Wir reden manchmal von einer ökonomischen Demokratie, die unsere politischen Demokratien unterstützen und verstärken kann. Umgekehrt ausgedrückt: Wenn Minderheiten einen Großteil der Wirtschaft und unserer Arbeit bestimmen, leidet auch die Demokratie. In den letzten Jahren hat sich dieses Problem nicht nur in den USA, sondern auch in Europa weiter verschärft.

Ich habe Ihre Überlegungen auch so gelesen, dass sich in der Arbeit die weltlichen Machtverhältnisse widerspiegeln und man diese infrage stellen sollte. Gleichzeitig ist der Glauben ein wichtiger Verbündeter und Kompass. Ist das nicht schwierig, weil sich der Glauben letztlich der rationalen Analyse entzieht?

Was heute oft als rational bezeichnet wird, hat uns nicht immer geholfen. Das unbegrenzte Profitstreben zum Beispiel wird von vielen als rational angesehen, ist es aber nicht unbedingt. Solidarische Beziehungen mit anderen, die in gewissen Glaubensformen zum Ausdruck kommen, sind nicht unbedingt weniger rational. Wir haben es eher mit einer Spannung verschiedener Rationalitäten zu tun. Welche Rationalität ist für das Wohlergehen der Menschheit und der Natur förderlicher?

Wir sind in einem Stadium extremer Individualisierung angekommen. Lässt sich das überhaupt noch zurückdrängen? Wenn ja, haben Sie vielleicht ein Beispiel?

Individualisierung ist vor allem in den USA weitverbreitet. Viele Leute glauben, dass wenn sie hart arbeiten, sie dann beruflich und wirtschaftlich weiterkommen und es eines Tages sogar zum Millionär schaffen können. Dies ist ein Mythos, vor allem, wenn man bedenkt, dass Aufstiegsmöglichkeiten in den USA geringer sind als in fast allen industrialisierten Ländern. Man kann die Individualisierung unserer Meinung nach mit dem, was wir tiefe Solidarität nennen, zurückdrängen. Wenn Menschen entdecken, dass sie mehr gemeinsam haben mit der arbeitenden Bevölkerung als mit den Eliten, dann sind sie für Solidaritätsarbeit zu gewinnen.

Wie viel schwerer ist Ihre Arbeit durch die Wahl von Donald Trump geworden?

Sicherlich ist unsere Arbeit nicht leichter geworden. Aber gleichzeitig hat sich seit 2016 auch der Widerstand von unten verstärkt. Viele Leute sind heute wacher als je zuvor, was Ausbeutung, Rassismus und Sexismus angeht. Auch in religiösen Kreisen regt sich immer mehr der Widerstand. Leider wird das oft in Europa nicht berichtet, und deshalb ist das Gespräch, das wir mit diesem neuen Buch anstreben, so wichtig.

Wie empfinden Sie Ihre eigene Arbeit und die Bedingungen Ihrer Arbeit? Was ist positiv, und was möchten Sie noch verbessern?

Wir haben in den USA einige Möglichkeiten, die wir so in Europa nicht hätten. Jörg hat einen prominenten Lehrstuhl an einer bekannten Universität, der zu gutem Funding und internationalen Verbindungen verhilft. Rosemarie hat das sogenannte „Southeast Center of Cooperative Development“ in Nashville gegründet, durch das sie ihre Arbeit fortsetzen kann. Das größte Problem ist, dass Erfolg oft zum Gegendruck führt. Aber dieser Gegendruck verbindet auch mit anderen und verstärkt damit oft unsere Projekte.

Info
Der Schlüssel ist die Sphäre der Erwerbsarbeit

Die Buchvorstellung, die das BücherABC und die Stadtbücherei Murrhardt gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen Murrhardt anbieten, ist am Dienstag, 4. Juni, um 19 Uhr im Heinrich-von-Zügel-Saal (Stadtbücherei), Oetingerstraße 1 in Murrhardt. Der Eintritt ist frei, um einen Unkostenbeitrag wird gebeten.

Das Buch: Jörg Rieger und Rosemarie Henkel-Rieger: Gemeinsam sind wir stärker. „Tiefe Solidarität“ zwischen Glauben und Arbeit. 160 Seiten, 2019, 16,80 Euro, VSA-Verlag, Hamburg. ISBN 978-3-89965-883-5. „Der Theologe Jörg Rieger und die Organizerin und Dozentin Rosemarie Henkel-Rieger zeigen, wie Ungleichheit zustande kommt, warum sie im neoliberalen Kapitalismus massiv wächst und was wir dagegen tun können: Der Schlüssel dazu ist die Arbeitswelt: Menschen aus verschiedenen Religionen, Glaubenstraditionen und Gewerkschaften können sich zusammentun, voneinander lernen und ihre Stärken neu entdecken: So wachsen „Tiefe Solidarität“ und die Kraft zur Transformation. Dieses Buch reflektiert die Erfahrungen, die das Autorenpaar in Dallas, einer Millionenstadt in Texas, gemacht hat, wo die Ungleichheiten größer sind als in fast jeder anderen amerikanischen Stadt“, so der Klappentext.

Die Autoren: Rosemarie Henkel-Rieger arbeitet als Organizerin und Dozentin. Die ausgebildete Molekularbiologin und Montessori-Lehrerin war zuletzt tätig für „North Texas Jobs with Justice“ und den Dallas Central Labor Council der US-amerikanischen Gewerkschaft AFL-CIO. Jörg Rieger ist Professor für Theologie an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee. Seine Schwerpunkte sind ökonomische Gerechtigkeit und politische Bewegung. Er studierte Theologie in Tübingen, Reutlingen und in den Vereinigten Staaten (Duke University), ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden.

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Erstellt:
3. Juni 2019, 06:00 Uhr

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