Selbstwertgefühl hat eine Schlüsselrolle
Interkultureller Selbstverteidigungsworkshop vermittelt Frauen und Mädchen, wie sie sich in kritischen Situationen schützen können

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„Keiner hat das Recht, euch etwas anzutun“, sagt Lilan (rechts) mit Nachdruck zu den Teilnehmerinnen des Workshops. Fotos: U. Gruber
Von Ute Gruber
MURRHARDT. „Pack mich mal an den Haaren“, fordert die kleine, aber kräftige junge Frau mit der dunklen Lockenmähne ihr Gegenüber in Englisch auf. Dann macht sie es vor, windet sich geschickt unter dem zwingenden Arm hindurch, bis dieser aus Schmerz den Griff löst. Noch ein angedeuteter, rascher Schubser mit den Knien in die Kniekehlen, sodass der überraschte Angreifer einknickt, „and run!“, ist Lilans Anweisung an die gespielten Opfer: sich befreien und abhauen. „Wenn Worte nichts nutzen, eine Aktion und weg. Lasst euch auf keinen Kampf ein!“
16 Frauen haben sich zum interkulturellen Selbstverteidigungsseminar im Rahmen des Begegnungsprojekts „angekommen – angenommen“ im rustikalen Murrhardter Jugendzentrum (Juze) ein-gefunden, junge Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan sowie Deutsche, darunter auch Mütter. Eine deutsche Arzthelferin etwa berichtet erschüttert von Patienten, die sie zu verarzten hatte. „Die wurden ohne Grund zusammengeschlagen, die hatten wirklich nicht provoziert.“ Sie wollte hier bei Lilan erfahren, wie sie sich und ihre Kinder schützen könne. Einfach nur ruhig bleiben, sei offenbar nicht generell der richtige Weg!
Eine andere Mama ist mit ihrer zarten, jungen Tochter da: „Wir brauchen viel mehr Selbstbewusstsein. Auch meine Tochter soll sich wehren können.“ Dass tatsächlich Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein eine Schlüsselrolle bei der Frage spielen, ob man selbst zum Opfer wird, macht auch das Vorgehen der ehrenamtlichen Kursleiterin deutlich. In der Vorstellungsrunde soll jede sagen, was sie an sich selbst am liebsten mag, worauf sie stolz ist. Haare, Augen, auch Charaktereigenschaften werden da verlegen genannt. „Keiner hat das Recht, euch etwas anzutun“, sagt Lilan mit Nachdruck. Und tatsächlich möchte man mit diesem energischen Persönchen lieber keinen Ärger haben, stellt auch der einzig anwesende Mann, Organisator Jochen Schneider, fest, obwohl er selbst die Kickboxerin um gut einen Kopf überragt.
„Umgebt euch mit dem, was euch guttut“, fordert Lilan die Anwesenden auf, „Menschen, Musik, auch Plätze“. Jeder habe diesen Instinkt in sich, der ihm sagt: Ist das gut für mich? „You feel so much better!“
Wie die hübsche, 24-jährige Syrerin, die eigentlich Medienwissenschaften studiert hat, auf die Idee kam, sich ausgerechnet ein solch martialisches Hobby wie Kickboxen auszusuchen und auch auf hohem Niveau zu praktizieren, kann man nur erahnen. Schließlich hat sie in ihrem jungen Leben bereits eine Odyssee durch verschiedene Länder hinter sich, bis sie vor einem Jahr in Deutschland angekommen ist, wohin auch ihre Mutter und Schwester vor dem Krieg im Heimatland geflüchtet waren. Heute vermittelt sie anderen Mädchen und Frauen in einem dreistündigen Kurs Technik und Selbstbewusstsein, um sich bei einem möglichen körperlichen Angriff wehren zu können. Dies ist ihr ganz offensichtlich eine Herzensangelegenheit. „Die Leute sind einfach dankbar für die Hilfe, die sie bei uns erfahren“, ist Jochen Schneiders Erfahrung, „da möchten sie einfach auch etwas zurückgeben“.
Die junge syrische Leiterin kam vor
einem Jahr nach Deutschland
„You think you are weak, but you are not!“ Sie seien nicht so schwach, wie sie dächten, muntert Lilan die Workshopteilnehmerinnen auf, schließlich hätten sie Ellenbogen, Knie und Fingernägel. Und Technik. Die sollte im Schlaf sitzen, weshalb während des Nachmittags verschiedene Angriffe wiederholt durchgespielt werden: Ob man an den Schultern festgehalten wird, am rechten oder linken Arm oder eben an den Haaren. In Zweiergruppen üben die Frauen miteinander und in wechselnden Rollen: Jede ist einmal Angreifer, einmal Opfer. Zum Schluss rekapituliert Lilan auch noch einmal die anatomischen Schwachpunkte des Gegners: Schläfe, Magengrube, seitliche Rippen – klassischer Knock-out.
Obwohl ihr Deutsch schon ganz gut ist, erklärt Lilan lieber in sicherem Englisch. Jochen Schneider vom Verein Kubus, der das Gesamtprojekt professionell organisiert und begleitet, übersetzt ins Deutsche. Im Notfall springen auch die anwesenden Syrerinnen mit Arabisch ein. Der Sozialarbeiter ist froh, dass sich seine Rolle aufs Dolmetschen beschränkt, und erklärt augenzwinkernd: „Ich hatte schon Angst, ich müsste hier den Angreifer spielen...“
Allerdings haben manche der Mädchen ganz andere Probleme: „Ich hab noch nie jemand geschlagen“, nennt die 15-jährige Farida als Motiv für ihre Teilnahme am Kurs, „ich weiß nicht, ob ich mich überhaupt wehren könnte.“ Sie ist vor drei Jahren mit ihrer Familie aus Syrien gekommen und besucht sehr erfolgreich die Realschule in Auenwald. Ihre große Schwester Lava (18) ist sogar auf dem Gymnasium und macht bei Kubus derzeit eine Schulung zum Jugendleiter. Im Sommer wird sie als praktischen Teil 14 Tage lang im Rahmen eines Austauschprogramms eine gemischte Jugendgruppe aus Deutschen, Mexikanern und Südafrikanern betreuen. Auch sonst ist die temperamentvolle junge Frau – der Name scheint hier Programm – sehr engagiert, liebt Mathe und möchte gerne Lehrerin werden. Lava betreut die WhatsApp-Gruppe des Projekts mit derzeit 93 Mitgliedern, die sie auch über die aktuelle Veranstaltung informiert hat. „Neulich hatten wir einen Kurstag zum Thema Geschlechterrollen“, berichtet sie aufgeschlossen über ein heißes Konfliktthema zwischen deutscher und islamischer Kultur. „Wir haben viel diskutiert. Am Ende hat jeder festgestellt, der andere hat doch auch irgendwie Recht.“
Was die Hemmungen sich zu wehren anbelangt, ist die junge Syrerin Tala aus Backnang klar im Vorteil: Sie hat einen großen Bruder. Der habe schon immer Spaßkämpfe mit ihr gemacht. „Aber neulich hat er gemeint: He, du wirst mir langsam zu stark!“ Wenn das kein Selbstbewusstsein gibt.

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Die Teilnehmerinnen üben wiederholt verschiedene Techniken, um sich bei einem Angriff wehren und befreien zu können.
Das Kubus-Projekt „angekommen – angenommen“ wird gefördert über Mittel des Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) der Europäischen Union. Gemeinsam mit deutschen und geflüchteten Jugendlichen wurden bereits unterschiedliche Module entwickelt, die von Schulen und Jugendgruppen in Baden-Württemberg gebucht und besucht werden können. Alle Module sind mobil einsetzbar.
In Murrhardt sollen Interessierten alle Module zugänglich gemacht werden. Im Rahmen des Projekts, das in Kooperation mit dem Jugendzentrum und dem Verein „Vielfalt tut gut“ stattfindet, sollen vor allem in der Walterichstadt Begegnungsveranstaltungen zwischen Menschen/ Jugendlichen mit und ohne Fluchterfahrung angeboten werden.
Neben dem Selbstschutzkurs könnten weitere Ideen sein: interkulturelle Konzerte, Kochaktionen mit Murrhardter Schulklassen (zum Beispiel ein syrischer Jugendlicher kocht mit einer Schulklasse). Die Kooperationspartner freuen sich über Anregungen. Kontakt und Infos zum Projekt: Jochen Schneider, Kubus e.V., Reinsburgstraße 82, 70178 Stuttgart, Telefon 0711/88899912, Mobil 0176/34228063, Mail: jochen.schneider@kubusev.org.