Sorglosigkeit ist keine Lösung

Sozialarbeiter Clemens Beisel informiert auch im Kreis mit dem „digitalen Elternabend“ über zentrale Themen der Medienerziehung. Heute Abend ist er in Murrhardt zu Gast und bietet Eltern, Fachleuten und Interessierten an, sich mit Gefahren digitaler Medien auseinanderzusetzen.

Sorglosigkeit ist keine Lösung

Die Vielfalt der digitalen Angebote für Kinder und Jugendliche, ob als Film, Programm, Spiel oder Kombinationen verschiedener Formen scheint unermesslich, und es kommen immer weitere neue Anwendungen hinzu. Wie behalten Sie selbst den Überblick? Oder ist der Anspruch sowieso utopisch?

Es ist schon mein Anspruch, zu wissen, welche Programme, Plattformen oder Spiele Kinder nutzen, mit denen ich arbeite und die ich begleite. In der Regel sind das aber nur fünf bis sechs Apps beziehungsweise Spiele, wenn es hochkommt vielleicht zehn Anwendungen. Es gibt zwar auch Kinder, die extravagante Angebote ausprobieren, aber das ist nicht die Regel. Grundsätzlich ist es auch nicht nötig, alle Anwendungen zu kennen, aber ich sollte wissen, wo ich mir Infos holen kann. Das heißt, ich muss beispielsweise das Videoportal TikTok nicht in- und auswendig kennen, aber wie ich an Informationen zu bestimmten Einstellungen beispielsweise in Bezug auf Sicherheitsfragen komme.

Die Eltern müssen da in der Regel ein Stück weit nachziehen. Was motiviert Mütter und Väter Ihrer Erfahrung nach dabei am meisten?

Viele Eltern machen sich schon Sorgen, allerdings sind auch ähnlich viele sorglos. Ich würde sagen, beide Kategorien halten sich ungefähr die Waage. Aber eine zentrale Motivation ist ganz klar die Fürsorge. Manche Eltern haben ja auch selbst schon mal erlebt, wie es ist, wenn über Whatsapp ein Streit ausgetragen wird oder wenn man über die sozialen Medien etwas Beleidigendes abbekommt, und sie möchten ihr Kind schützen, falls ihm das auch droht.

Wenn Eltern zu sorglos mit der Mediennutzung umgehen, was lauern da für Gefahren?

Gewalt, Pornografie und Mobbing, sage ich jetzt mal bewusst zugespitzt. In sozialen Netzwerken existiert kein Jugendschutz oder Kinderschutz. Es gibt beispielsweise bestimmte technische Mechanismen wie Fakebots, also automatisierte Accounts, von denen junge Nutzerinnen und Nutzer angeschrieben werden und die erst mal als solche überhaupt zu erkennen sind. Oder in einer Reportage wurde kürzlich gezeigt, wie über TikTok-Videos selbstverletzendes Verhalten getriggert werden kann. Algorithmen können bewirken, dass die Auswahl nach einem Tag bereits bei 85 Prozent liegt und Kinder so schnell in Nischen abdriften. Das gilt genauso für Kriegsnachrichten, sodass sie mit sehr schlimmen Inhalten konfrontiert sein können. Ich bin kein Fan davon, einen jungen Menschen auszuspionieren beispielsweise, indem man das Handy kontrolliert, halte es aber für wichtig, ihn in dieser Hinsicht zu begleiten, was bei einem guten Kontakt möglich sein sollte.

Ein Thema ist ja auch die Suchtgefahr von digitalen Angeboten – unabhängig von individuellen Risiken, die auch noch eine Rolle spielen können. Gibt es da besonders gefährliche Formen?

Das Problem ist, dass die Angebote im wahrsten Wortsinn endlos sind, ob es nun soziale Netzwerke, Spiele oder Videokanäle sind. Wenn es für junge Leute keine Leitplanken gibt, besteht die Gefahr, dass sie sich verlieren und die Nutzung ins Krankhafte umschlägt. Damit mein Kind nicht in die Sucht abdriftet, braucht es vom Erziehungsberechtigten Regeln. Die Bedingungen waren in meiner Generation noch andere. Die Batterie vom Gameboy war irgendwann leer, eine Serie lief an einem bestimmten Wochentag im Fernsehen, aber es gab nur eine Folge pro Woche. Heute arbeiten die technischen Mechanismen hinter den Apps zudem oft mit regelmäßigen Benachrichtigungen oder Belohnungssystemen, die einen dazu bringen, in Interaktion mit anderen oder dem Programm zu bleiben. Hinzu kommt möglicherweise der Druck von Freunden beziehungsweise ein sozialer Gruppenzwang. Das heißt, ich muss auch in diesem Punkt nicht jeden Mechanismus des Programms kennen, aber die grundsätzlichen Prinzipien, um die Gefahren zu sehen. Das lässt sich auch Kindern und Jugendlichen erklären, und die verstehen dann sehr gut, dass viele Grundmechanismen digitaler Angebote in der Hinsicht vergleichbar und ähnlich sind.

Eine Zeit lang war auch das digitale Fasten ein Thema – wie stehen Sie dazu?

Im Prinzip ist es kein schlechter Ansatz, aber mir fehlt dabei der reflektierte Umgang mit den Programmen. Ich glaube, Kinder und Jugendliche hätten gar kein Nutzungsproblem, wenn sie zu den digitalen auch sonst gute Beschäftigungsangebote bekämen. Wenn wir uns da anstrengen, sind sie schnell vom Handy wegzubekommen, beispielsweise wenn sie im Schullandheim oder mit Freunden etwas erleben können. Ein Fasten braucht es im Grunde gar nicht, möglich sind aber beispielsweise Regeln, wie dass das Smartphone ab 21 Uhr nicht mehr angeschaltet wird.

Wo kann ich mir da konkrete technische Hilfe holen?

Wenn es darum geht, solche Leitplanken, wie ich es nenne, einzurichten, bietet die Seite www.medien-kindersicher.de Unterstützung. Es gibt beispielsweise die Mögichkeit, über die Einstellungen zu regeln, dass das Internet oder Anwendungen über das Handy abends ab einer bestimmten Zeit nicht mehr nutzbar sind, oder die Spieldauer zu beschränken. Das gilt aber eben nicht für den Notruf, der lässt sich jederzeit nutzen.

Wollen Sie noch etwas dazu sagen, was die Gäste heute Abend erwartet, ohne alles zu verraten?

Es ist nicht möglich, alle soziale Netzwerke vorzustellen, das würde den Rahmen sprengen. Ein wichtiges Thema für mich ist, seine eigene Mediennutzung mal unter die Lupe zu nehmen, auch kritisch, Eltern und Erwachsene haben ja eine Vorbildfunktion. Dazu ist es gar nicht schlecht, das eigene Handy mitzubringen. Ich möchte unter anderem ein paar Impulse geben, was diese persönliche Nutzung anbelangt.

Das Gespräch führte Christine Schick

Foto: privat
„Das Smartphone einfach mal abschalten“ sagt sich leicht, ist es aber keinesfalls. Mit diesem Problem sind auch schon Kinder konfrontiert. Die Mechanismen der Programme oder Plattformen arbeiten beispielsweise mit Systemen, die einen belohnen, wenn man viel mit anderen oder den Anwendungen interagiert. Foto: stock.adobe.com/svetabezu

© svetabezu - stock.adobe.com

„Das Smartphone einfach mal abschalten“ sagt sich leicht, ist es aber keinesfalls. Mit diesem Problem sind auch schon Kinder konfrontiert. Die Mechanismen der Programme oder Plattformen arbeiten beispielsweise mit Systemen, die einen belohnen, wenn man viel mit anderen oder den Anwendungen interagiert. Foto: stock.adobe.com/svetabezu

Clemens Beisel kommt heute in die Murrhardter Festhalle. Gäste sind eingeladen, das Smartphone mitzubringen

Clemens Beisel Der gelernte Sozialpädagoge und Sozialmanager bietet seit 2013 Schulklassenworkshops, Fortbildungen und Elternabende zum Spannungsfeld „Smartphones, soziale Netzwerke und junge Menschen“ an. Allein im Schuljahr 2021/2022 wurde er für über 300 Veranstaltungen zu dem Thema gebucht. Clemens Beisel hat lange Jahre beim Stadtjugendring Pforzheim gearbeitet und ist freiberuflicher Referent für Social Media unter anderem beim Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg. Für Non-Profit-Organisationen ist er in beratender Funktion tätig und unterstützt diese bei der Entwicklung medienpädagogischer Präventionsangebote. Während der Pandemie hat er den digitalen Elternabend entwickelt, der monatlich von etwa 20000 Menschen gestreamt wird und mit dem Eltern die Medienerziehung daheim in gesunde Bahnen lenken können, so Beisel. Ein Angebot, das im Rems-Murr-Kreis übrigens bis 1. August für Eltern und pädagogische Fachkräfte kostenlos zur Verfügung steht. Bei Interesse kann man sich per E-Mail bei Harry Müller, kommunaler Suchtbeauftragter des Kreises, unter ha.mueller@rems-murr-kreis.de melden. Weitere Infos unter: www.clemenshilft.de

Infoabend Der offene medienpädagogische Abend mit Clemens Beisel rund ums Thema „Smartphone, soziale Netzwerke und Co.“ findet am heutigen Donnerstag, 19. Mai, um 19 Uhr in der Murrhardter Festhalle statt. Die Teilnahme ist kostenlos, was der Verein zur Förderung der Schulsozialarbeit in Murrhardt ermöglicht hat. Wie Schulsozialarbeiter Achim Strack berichtet, hat das Schulsozialarbeiterteam sich im Schulterschluss mit den Murrhardter Schulen dafür eingesetzt, neben dem digitalen Elternabend auch einen offenen Infoabend für Eltern und Fachkräfte in der Walterichstadt anzubieten. Alle Interessierten, die Kinder und Jugendliche begleiten, sind eingeladen, dabei zu sein und das Smartphone mitzubringen, um bestimmte Tipps gleich ausprobieren zu können. Geplant wird mit einem Zeitrahmen von etwa zwei Stunden.

Zum Artikel

Erstellt:
19. Mai 2022, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Lesen Sie jetzt!

Murrhardt und Umgebung

Warum drei Eselsohren nicht schlimm sind

Ein Theaterstück mit lustigen Tieren, viel Fantasie und einer klaren Botschaft erlebten die Erst- und Zweitklässler der Hörschbachschule in Murrhardt. Wilhelm Schneck vom Theater Lokstoff aus Stuttgart begeisterte die Jungen und Mädchen und animierte sie zum Mitmachen.

Murrhardt und Umgebung

Traditionsunternehmen Gampper schließt

Der Murrhardter Hersteller für Sanitäranlagen stellt bis Ende Juni seine Produktion ein. Rund 40 Mitarbeitern wird gekündigt, die eigene Marke Nil ist bereits verkauft. Als Gründe nennt der Geschäftsführer hohe Produktionskosten in Deutschland und die schwierige Lage am Weltmarkt.

Murrhardt und Umgebung

Blasmusiknachwuchs zeigt sein Können

Bei der Kinder- und Jugendarbeit der Stadtkapelle Murrhardt hat sich viel getan. Es gibt Nachwuchs beim Vororchester und bei der Begleitung. Die neuen Hit Kids, die Jugendstadtkapelle, Flötengruppen und Bläserklassen der Hörschbachschule gestalten das Jugendkonzert am 5. Mai.