Warum Solidarität gerade heute wichtig ist

Rosemarie Henkel-Rieger und Jörg Rieger stellen ihre Überlegungen rund um ihr Buch „Gemeinsam sind wir stärker“ vor

Auf den ersten Blick scheinen die Themen Glauben und Arbeit nicht viel miteinander zu tun zu haben. Doch bei ihrer Buchvorstellung bauen Rosemarie Henkel-Rieger und Jörg Rieger nicht nur ganz selbstverständlich Brücken zwischen ihnen, sondern stellen auch sehr grundsätzliche Fragen. Sie machen deutlich, dass sich die ökonomische Ungleichheit auch in einem religiösen Denken widerspiegelt, das die Machtfrage nicht reflektiert, und Solidarität wichtiger denn je ist.

Rosemarie Henkel-Rieger und Jörg Rieger, die in Murrhardt aufgewachsen sind, haben im Heinrich-von-Zügel-Saal engagiert mit dem Publikum über ihre Ansätze und ihre Arbeit diskutiert. Foto: A. Becher

© Pressefotografie Alexander Beche

Rosemarie Henkel-Rieger und Jörg Rieger, die in Murrhardt aufgewachsen sind, haben im Heinrich-von-Zügel-Saal engagiert mit dem Publikum über ihre Ansätze und ihre Arbeit diskutiert. Foto: A. Becher

Von Christine Schick

MURRHARDT. Da ist die Krankenschwester, die in ihrer Klinik eine Gewerkschaft gründen will, was sie den Job kostet, da sind Menschen, die für den Mindestlohn arbeiten, viele Jobs und kaum Zeit zum Schlafen haben, aber trotzdem kaum über die Runden kommen. Die Beispiele von Rosemarie Henkel-Rieger und Jörg Rieger aus den USA machen Angst, weil die Regel gilt, dass sich die Verhältnisse spätestens in zehn Jahren in Deutschland beziehungsweise in Europa ebenso darstellen. Die Vorstellung ihres Buchs „Gemeinsam sind wir stärker. Tiefe Solidarität zwischen Glauben und Arbeit“, die das BücherABC, die Stadtbücherei und der Arbeitskreis christlicher Kirchen gemeinsam organisiert hatten, ist eine Mischung aus freiem Vortrag und Austausch mit dem Publikum.

Als die beiden vor rund 30 Jahren in die USA auswanderten, kamen sie in den Süden. Dort sind auch die Arbeitsverhältnisse noch schlechter als sonst im Land. „Das hat historische Gründe“, sagt Rosemarie Henkel-Rieger, die als Molekularbiologin, Montessori-Pädagogin und später als Organizerin in gewerkschaftlichen Kontexten gearbeitet hat. „Auch deutsche Produzenten wie Daimler oder VW kommen deshalb gerne in den Süden, die Löhne sind niedriger, die Gewerkschaften schwächer.“ Nach ihren Recherchen verfügt in den USA das oberste eine Prozent über rund 40 Prozent des Wohlstands im Land.

Jörg Rieger, Theologieprofessor und Leiter des Programms „Religion and Justice“ (Religion und Gerechtigkeit) an der Eliteuniversität Vanderbilt in Nashville, erinnert daran, dass schon Martin Luther King als Sprecher der Bürgerrechtsbewegung die ökonomische Frage nicht außen vor gelassen hat. Ein Platz im Bus neben dem weißen Mitbürger nützt wenig, wenn man ihn sich gar nicht erst leisten kann, geschweige denn genug zu essen hat. Angefangen bei der feministischen Theologie kam er über die Rassen- zur Klassenfrage.

Akademische Arbeit, Austausch mit Gewerkschaften und ein internationaler Blick über die Landesgrenzen hinaus lassen bei ihm die Überzeugung wachsen, dass Solidarität zwischen den Menschen wichtig ist. Seine Frau macht den Trend anhand von Zahlen deutlich: Die Produktivität ist in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter gestiegen, die Löhne stagnieren. Was nicht unbedingt förderlich ist, gegen die Ungleichheit anzugehen, sind typische Gottesbilder, die letztlich ja auch als Vorbilder fungieren: Mal wird Gott als Kaiser beschrieben, mal die Parallele zum Präsidenten gezogen. „Wenn wir an Gott denken, schauen wir meist nach oben, weitere Assoziationen sind Kirchtürme oder Wolkenkratzer“, sagt Jörg Rieger. Die Verbindung zu Reichtum und Macht liegt da sehr nahe. Nach seiner Überzeugung hat sich Jesus allerdings nicht groß mit den Mächtigen und Reichen aufgehalten, vielmehr verortet er ihn im Proletariat, möglicherweise sei er Arbeiter auf einer der großen, römischen Baustellen gewesen.

Als sich Rosemarie Henkel-Rieger sozial engagierte, beispielsweise für Obdachlose, wurde ihr klar, dass die Frage nach den Ursachen ungleicher Verteilung selten gestellt wird. „Aber diese Arbeit, wenn es allein um Wohltätigkeit geht, ist nur wie ein Pflaster. Sie verändert die Situation nicht nachhaltig.“ Bei der Organisation „Jobs with Justice“ leisten sie und ihre Mitstreiter auch Aufklärungsarbeit über die Arbeitsverhältnisse derer, die ganz unten stehen und Bessergestellten selbst von ihrer Lage berichten. Es entsteht das Konzept, das das Ehepaar im Buch als tiefe Solidarität bezeichnet.

Wohltätige Organisationen helfen kurzfristig, verändern die Lage der Menschen aber nicht nachhaltig

„Es geht darum, eine Gemeinschaft aufzubauen, den anderen nicht als Empfänger und die Beziehung nicht als Einbahnstraße zu sehen“, sagt Jörg Rieger. Die Idee, dass ein Einzelner alles aus sich heraus schaffen kann und allein für seinen ökonomischen oder gesellschaftlichen Erfolg steht, hält er für falsch in doppeltem Sinn. Sie würde bereits die Erziehung als Leistung von Mutter, Familie und Gemeinschaft verleugnen und nimmt einem auch die Chance, sich mit anderen zusammenzutun, um gravierende Ungleichheit abzuschaffen. „Es ist deshalb aber nicht nötig, zu sagen, dass wir alle gleich sind.“

Rosemarie Henkel-Rieger hat sich in ihrer beruflichen Arbeit darauf ausgerichtet, Menschen zu ermutigen, über ihre ökonomische Lage nachzudenken, zu überlegen, was man möglicherweise mit anderen tun kann, um die Situation zu verbessern. Dabei geht es um Selbstermächtigung und nicht darum, einen neuen Anführer zu finden. Hier schlägt Jörg Rieger die Brücke zu einem wichtigen Thema unserer Zeit: „Es ist eine andere Art, etwas aufzubauen. Viele denken, dass Demokratie nur mit Politik zu tun hat, wir glauben aber, dass die Wirtschaft ebenso eine wichtige Rolle spielt“, sagt er. Das Anliegen, die ganz krassen Ungleichheiten abzubauen, könnte für die Staatsform nicht nur wichtig, sondern in letzter Konsequenz zur Überlebensfrage werden.

In Diskussion und Austausch werden einzelne Aspekte weiter vertieft. Auch wenn der Protestantismus im Extrem zur Vergötterung der Arbeit beigetragen hat, sieht Jörg Rieger trotzdem die Chance, zu hinterfragen, wer denn da arbeitet und zu wessen Wohlstand beiträgt. Anstatt dem Mythos „vom Tellerwäscher zum Millionär“ anheimzufallen, erscheint es dem Ehepaar sinnvoller, über Alternativen wie die Schaffung von kooperativen Arbeitsplätzen nachzudenken, die auch mehr Einfluss auf das eigene Tun erlauben. Für hilfreich hält Rieger dabei auch, sich bewusst zu machen, dass ein Festhalten an einem rein gelddiktierten und selbstbezogenen Alltag Beziehungen zerstört und unmöglich macht. Dazu gehört letztlich auch die Wertschätzung von Tätigkeiten, die bis heute wenig anerkannt sind, wie reproduktive Arbeit – Kindererziehung, Haushalt, Pflege. „Der Kapitalismus ist auch darauf aufgebaut, dass einzelne Tätigkeiten eben nicht alle gleich geschätzt werden“, sagt Rosemarie Henkel-Rieger. Beispielsweise Jobs, die Einwanderer erledigen, die dann in sklavenähnlichen Verhältnissen leben. Gleichsam machen die beiden deutlich, dass sie nicht allein an die Menschen denken, die ganz unten stehen, sondern an alle, die arbeiten, um zu leben. Dazu gehören auch Collegeabsolventen, die ihre Schulden vom Studium kaum abbezahlen können, oder Aushilfsprofessoren an Universitäten, die „so viel verdienen wie ein Hausmeister“ und deren Bestreben, eine Gewerkschaft zu gründen, ebenfalls bekämpft wird.

Jörg Rieger/Rosemarie Henkel-Rieger: Gemeinsam sind wir stärker. Tiefe Solidarität zwischen Glauben und Arbeit. VSA-Verlag, 16,80 Euro, 2019. ISBN: 978-3-89965-883.

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Erstellt:
14. Juni 2019, 12:56 Uhr

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